2024 erschien ein Büchlein mit dem Titel „Koblenz – Nur Koblenz allen hat Mosel und Rhein“. Es stammt von Anja Balschun.

Anja Balschun wurde 1966 im Mai in Koblenz geboren. Nach wie vor lebt und schreibt sie in ihrer Heimatstadt. In ihren zahlreichen Kriminalromanen, die stets in der Region spielen, wird ebenso wie in diesem Buch die innige Verbundenheit zu Landschaft und Menschen an Rhein und Mosel lebendig.
Auf der Rückseite des Buches ist zu lesen: Nur Koblenz allein hat Mosel und Rhein — diese Aussage wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber neben diesem Alleinstellungsmerkmal hat die Stadt an den beiden Flüssen weitaus mehr zu bieten. Zum Beispiel die Geschichte, wie das Bundesarchiv 1983 eine ungeahnte Sternstunde erlebte oder wie aus einer spinnerten Idee bewegende Musik wurde. Oder welche großartigen Dinge auf ehemaligen Militärflächen geschehen, wer oder was hinter den Namen Colette und Egon stecken und warum hier das Glück zuhause ist. Die Antworten finden sich in diesem Buch. Aber auch von großer und kleiner, stets mit jeder Menge Herzblut geschaffener Kunst, sportlichen Zufallstreffern, genialen Erfindungen und spektakulären Rheinüberquerungen wird die Rede sein. Und wie es passieren konnte, dass man am Deutschen Eck wieder mit der Mark bezahlen kann.
Im Folgenden ist der kleine Beitrag über Dr. Josef Henke, gebürtig aus Erwitte, wiedergeben. Ein weiterer Beitrag findet sich u.a. im Kreisheimatkalender 2026. WM
Hitlers Tagebücher in Koblenz – Sternstunde fürs Bundesarchiv
Man schreibt den 25. April 1983. Ein Montag, an dem die ganze Welt den Atem anhält. Eine Sensation liegt in der Luft. Die Redaktion des Nachrichtenmagazins Stern hat zur Pressekonferenz in ihr Hamburger Verlagshaus Gruner & Jahr geladen. „Hitlers Tagebücher entdeckt” titelt die Wochenzeitschrift auf ihrer neuesten Ausgabe. Die Chefs persönlich treten vor die in Scharen angereiste internationale Presse und präsentieren zwölf schwarze Kladden, bei denen es sich um die Tagebücher von Adolf Hitler handeln soll.
Das Bild, auf dem sich Gerd Heidemann, der Starredakteur des ‚Stern‘, mit einem der vermeintlichen Tagebücher in der Hand fotografieren lässt, geht um den gesamten Erdball. Bei dem Versuch, die besten Plätze zu ergattern, um das Ungeheuerliche für immer festzuhalten, kommt es unter den über 200 Reportern und mehr als zwei Dutzend Fernsehteams zu tumultartigen Szenen.
Aus dem Hintergrund beobachtet ein junger Archivar das wüste Geschubse. Dr. Josef Henke ist im Bundesarchiv Koblenz als Referatsleiter für Schrift- und Druckgut NSDAP zuständig. An die Pressekonferenz und die Ereignisse danach erinnert er sich, mittlerweile Archivdirektor im Ruhestand, ganz genau. Auch an das mulmige Gefühl, das ihn seinerzeit beschlich. Bereits im Frühling 1982 hatten zwei Reporter des Stern Josef Henke Schriftproben vorgelegt, die angeblich von Adolf Hitler persönlich gefertigt worden sein sollen. Für Josef Henke normaler Arbeitsalltag. Die beiden Journalisten gaben vor, an einer Geschichte über Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess zu arbeiten. Von irgendwelchen Tagebüchern war nie die Rede.
Als diese nun stolz der Öffentlichkeit vorgestellt werden, wird Henke, der von seinem Chef die Order hatte, dafür zu sorgen, dass das Bundesarchiv nicht in die Angelegenheit verstrickt wird, schlagartig klar: Das kann die Medienwelt aus den Angeln heben. Er sollte Recht behalten. Wobei der promovierte Historiker von Anfang an Zweifel an der Echtheit der Bücher hegte. Sofort nach der sensationellen Verkündung fordert das Bundesarchiv Koblenz den Stern auf, der Behörde mehrere Tagebücher zu überlassen. Das Magazin ist einverstanden und Josef Henke reist mit drei Kladden im Zug zurück nach Koblenz. Natürlich nicht ohne von den Machern des ‚Stern‘ aufgefordert zu werden, die wertvolle Fracht zu hüten wie seinen Augapfel. Immerhin hat der Verlag die stolze Summe von 600.000 D-Mark für die drei

Dr. Josef Henke entlarvte 1983 die angeblichen Hitler-Tagebücher als plumpe Fälschung.
Hefte hingeblättert. Zu gerne hätte der Mitarbeiter des Bundesarchivs auf der Fahrt einen Blick riskiert, gesteht er, aber sein Auftrag steht unter der Überschrift, streng geheim‘. Er muss seine Neugier beherrschen.
Zurück in Koblenz geht es ans Eingemachte. Zunächst werden die Bundesanstalt für Materialprüfung in Berlin und das Bundes-Kriminalamt gebeten, die Seiten, auf denen Hitler angeblich privateste Dinge festgehalten hat, die Rede ist unter anderem von Mundgeruch und Blähungen, zu prüfen. Und siehe da, unter ultravioletter Bestrahlung zeigt sich beim BKA in Wiesbaden, dass das Papier frühestens in den 1950er-Jahren hergestellt wurde, da es Aufheller enthält, die erst seit dieser Zeit verwendet werden. Ein erster Hinweis darauf, dass etwas faul ist. Weitere Untersuchungen werden veranlasst.
Während diese laufen, überprüfen Josef Henke und sein Kollege Klaus Oldenhage die Dokumente inhaltlich. Henke übernimmt die Zeit vor 1939, kurz bevor der Zweite Weltkrieg ausbricht. Dieser Zeitraum ist Thema seiner Doktorarbeit. Er behandelt darin ‚Hitlers Außenpolitik gegenüber England‘. Im Koblenzer Bundesarchiv beschäftigt er sich intensiv mit Quellen aus der Zeit des Dritten Reiches und der NSDAP, die er archiviert, beurteilt und für Forschungszwecke verfügbar macht. Seine genauen Kenntnisse über die Gräuel der NS-Verbrechen führen den anerkannten Spezialisten sogar als Gutachter nach Kanada, in die USA, Australien und Israel, wo er in Prozessen gegen Kriegsverbrecher die Echtheit von Beweisdokumenten bestätigt. Wenn es verlangt wird, auch unter Eid.
Die angeblichen Tagebücher des Führers könnten also in keinen besseren Händen liegen. Je mehr er sich in die Dokumente vertieft, umso größer wird sein Erstaunen. Aber eben nicht, weil darin aufsehenerregende Neuigkeiten zu erfahren sind, sondern Henke genau das Gegenteil auffallt: Alles, was in den Heften steht, ist kein Geheimnis, sondern war in Zeitungen zu lesen. Außerdem kein Wort zu Hitlers Verhandlungen mit England, wie gesagt, Henkes Spezialgebiet. Und warum sind alle Seiten unterschrieben? Sehr seltsam in einem Tagebuch, findet Henke. Zudem, das findet er mehr als merkwürdig, werden Hitlers rassenideologische Verbrechen, wie der Holocaust und die Vernichtungskriege, die er in vielen authentischen Quellen gefordert hat, banalisiert. Ais ob man den Führer reinwaschen wollte.
Am 1. Mai 1983 steht für den jungen Historiker und seinen Kollegen Oldenhage fest, dass die Tagebücher nichts anderes sind als eine dreiste Fälschung. Die Koblenzer Archivare erhalten am 3. Mai vier weitere Kladden zur Prüfung. Henke bekommt weitere Mitarbeiter, von denen einer Wolfgang Werner ist. Er findet schließlich heraus, dass die vermeintlichen Tagebücher im Grunde nichts anderes sind als Abschriften aus ‚Hitler. Reden und Proklamationen 1932—-1945‘ von Max Domarus oder Artikeln aus dem Völkischen Beobachter, der Parteizeitung der NSDAP.
Da passt es gut, dass die Bundesanstalt für Materialprüfung fast zeitgleich mitteilt, dass der Kleber der Kladden nicht aus den 1930er- und 1940er-Jahren stammt. Der Stern ist einem Betrüger auf den Leim gegangen – zugegeben, einem höchst talentierten. Konrad Kujau, der sechzig Tagebücher gefälscht und für mehr als neun Millionen Mark an das Nachrichtenmagazin verkauft hat, besaß die Fähigkeit, Hitlers Schrift eins zu eins nachzuahmen. Wie heißt es so schon in einem amerikanischen Sprichwort? Was aussieht wie eine Ente, watschelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, das ist wohl eine Ente. Im Fall des ‚Stern‘ eine wohlgenährte Zeitungsente.
Am 6. Mai 1983 gibt es deshalb wieder eine Pressekonferenz. Diesmal lädt das Bundesarchiv Koblenz ein. Josef Henke wäre dieser Veranstaltung am liebsten ferngeblieben, schließlich liebt er seinen Beruf unter anderem deshalb so sehr, weil er nicht ständig im Mittelpunkt stehen will, sagt er und lächelt.
Die Nachricht, dass es sich bei den angeblichen Hitler-Tagebüchern zweifellos um Fälschungen handelt, verbreitet sich wie ein Lauffeuer rund um den Globus. Der Stern, übrigens bei der Koblenzer Pressekonferenz nicht vertreten, ist bis auf die Knochen blamiert, der Imageschaden gewaltig. Gerd Heidemann, wenige Tage vorher noch gefeiert, muss sich, genau wie Konrad Kujau, vor Gericht verantworten. Beide werden zu Haftstrafen verurteilt, während Josef Henke plötzlich dort steht, wo er nie stehen wollte: im Rampenlicht. Nach wie vor erhält er Anfragen zu seiner Arbeit vor mehr als vierzig Jahren.
Mitte Dezember 2023 übergibt der Bertelsmann-Konzern 52 Kladden an das Bundesarchiv in Koblenz. Genau da gehören sie auch hin.