1954: Die Pöppelsche

Von Gottfried Kapp †; in: Heimatblätter 1954, S.108-109

[Text z. T. schwer zu transkribieren; im geringen Umfang an heutige Schreib- und Sprachformen angepasst. WM, 14.03.2024]

Diesen Namen trägt ein eigenartiges landschaftliches und geologisches Gebilde im westlichen Haarstrang. Die Haar ist jener Höhenzug aus Kalkstein, der von der Möhne vom Sauerland abgetrennt wird und in flach abfallenden Wellen dem Lippetal zuneigt.

Quer in diesen Höhenzug sind Täler eingeschnitten. Ein Fluss schießt hindurch oder ein Bach. Die Pöppelsche aber ist eine Schledde, die nur zeitweise Wasser führt. Das meistens trockene Flussbett zieht sich wie ein weißes, zerklüftetes, gewundenes Band, gleich einer vernachlässigten Straße, durch das schmale, oft nur zehn Meter breite Tal. Die Bergwände rücken dicht aneinander und sind steil. Die Erdensenke macht in ihrer ganzen Länge den Eindruck eines Canons. Nur dessen Großartigkeit darf man nicht erwarten. Der Zauber dieser Landschaft stammt von minderen und doch bestrickenden Dingen.

Über das Flussbett schreitet man wie auf einer waagerecht gelegten Treppe. Eine abgebrochene Kalkplatte folgt der andern, über die vor langen Jahren das Wasser „von Klippe zu Klippe geworfen“, hinabfloss. In den Kalkplatten wimmelt es von Versteinerungen. Ein Seeigel wölbt seinen kugeligen, vierteiligen Rücken schwarz aus dem weißen Grund, Farne, wie Filigran so köstlich, sind fein und silbern darin eingeritzt, Muscheln in den mannigfaltigsten Formen, ließen ihre Spuren als Schiffchen, als Mulden- und Buchten im Kalk zurück. Die weichen Platten verschlucken jeden lauten Tritt. Die Stile in dem Tal ist beängstigend und feierlich, und diese Feierlichkeit wird noch durch das Gestrüpp und die Sträucher betont, die, dünn und spärlich von der Natur gepflanzt, an den steilen Hängen aufwärtsklettern. Es sind dichte Büsche von Heckenrosen und Brombeeren.

Es dominieren aber die Wacholderstauden. Mit ihren düster grünenden Umhängen, den grauen, wetterzerrissenen Zweigen stehen sie schlank und anspruchslos zwischen dem nackten, weißen Geröll, ohne Regung, selbstvergessen und gewohnt der Stille. Zwerggebliebene Zypressen könnte man sie nennen. Sie verwandeln wirklich diese lange Bergschlucht in eine Miniatur des Südens. Einige von ihnen sind über die Abhänge aus dem Tal hinausgeklettert. Ihre Neugierde lässt sie der Wind büßen. Er hat sie zerzaust und krummgebogen. Wie eine kriechende Hecke umsäumen sie das Tal. Nur einmal lassen sie eine Lücke. Das ist an der höchsten Stelle der Haar, wo der ewige Wind nichts duldet, der „Spitzen Warte“ (389 m).

‚Von hier aus übersieht man fast das ganze mittlere Westfalen. Nach Norden, hinter der Doppelzeile des Hellwegs und der Lippe, dehnt sich bis zum nebligen Horizont die Münstersche Bucht, überragt von den Beckumer und Stromberger Kreidehügeln. Im Osten erheben sich die dunklen Höhenrücken des Teutoburger Waldes. Das Eggegebirge setzt ihn fort und knüpft ihn, indem wir nun die Schwenkung nach Süden mitmachen, durch die hohen Waldberge bei Brilon an das vielgestaltige, aber durch zahlreiche Bergspitzen gegliederte Sauerland. Von den Bergstädtchen Rüthen, Kallenhardt, Warstein tauchen die Kirchtürme aus den Wäldern.

Dahinter erhebt sich breit und massig wie eine die Welt abschließender Mauer der hohe Stimmstamm. Soest, die Türme reiche Stadt, ist das Erste, was das westwärts gerichtete Auge auffängt. Hinter ihr verdüstert sich der Horizont, wird grau und drohend. Das sind die Schlote von Unna, Hamm, Dortmund und Ahlen, die mit ihrem finsteren Qualm das Auge hemmen. Nur zur Nachtzeit, wenn die Hochöfen in der Runde brennen, kommt auch von dort ein blanker, roter Schein, ein Lichtruf des unablässigen Lehens, während unter uns das beinern gewordene und ausgetrocknete Bett der Pöppelsche fahl vom Leben zeugt, das vor Jahrtausenden schon gestorben ist.