1952: Das Kränzchenreiten – Ein Fastnachtsbrauch in Westernkotten aus Vätertagen

Von Wilhelm Probst

Erstabdruck in: HB 33 (1952), S. 14; weiterer Abdruck in: Bad Westernkotten. Ein Heimatbuch, Lippstadt 1958, S. 81 – 83

Die Fastnachtstage, d. h. Sonntag, Montag und Dienstag vor Aschermittwoch, waren früher in Westernkotten sehr unruhige Tage. Zwischen den Bauern und den Handwerkern, gemeint sind die Männer und großen Jungen des Dorfes, die nicht zu den Bauernfamilien gehörten, war das ganze Jahr hindurch kein gutes Zusammensein.

Nur wenn die gegen die Männer und Jungen der Nachbardörfer etwas ausmachen wollten, hielten sie zusammen. Sonst lebten sie meist wie Hund und Katze nebeneinander. Das war nicht gut. Sogar das große Dorffest, das Schützenfest, mochten sie nicht gemeinsam feiern. Die Bauern hatten bei Dietz und die Handwerker bei Kernpers ihr Fest. Die Uneinigkeit wurde aber in den Fastnachtstagen oft zur Streitsucht, und dann gab es manchmal blutige Köpfe, und es hat sogar schon Tote gegeben. Das war eine schlimme Sache. Die Frauen und Mütter sahen den Fastnadttstagen mit Sorgen und Angst entgegen.

Am Fastnachtssonntag, gleich nach den Gottesdiensten, gab es ein wildes Reiten durchs Dorf. Die Bauern, Bauernsöhne und auch die Bauernknechte, die sich zu Martini bei ihrem Dienstantritt schon ein Pferd für das Reiten ausbedungen hatten, ritten im Trab oder im Galopp über alle Straßen und Wege. Sie probierten die Pferde aus, mit denen sie des Nachmittags zum Kränzchenreiten wollten. Die Pferde trugen nur einen Zaum, und fast alle Reiter saßen auf dem nackten Rücken der Rosse. Wenn es dann über die lange Straße des Dorfes ging, die früher der Osterbach in voller Breite einnahm, spritzte das Bachwasser hoch und weit. Man lief den wilden Reitern schon gern aus dem Wege, aber die Dorfbuben schauten sich das alles mit glänzenden Augen an. Wenn sie doch auch erst so mitmachen könnten. Nur die Handwerker schauten verächtlich dem Bauernreiten zu und lachten höhnisch, wenn ein Reiter sein übermütiges Pferd nicht recht bändigen konnte. Aber zu dem Kränzchenreiten auf dem Schützenplatz würden sie doch gehen, schon deswegen, weil sie hofften, dass einige Reiter von den Pferden stürzen würden, wie das ja in jedem Jahr geschah.

Gleich nach dem Mittagessen ritten die Bauern zum Schäferkamp, wo sie sich auf Bälsers Hofe versammelten. Da nuckten und bissen sich die Pferde, und ihre Reiter klopften ihnen begütigend den Hals, damit sie ruhig stehen sollten, oder schimpften auch wohl wie ein Kümmeltürke, wenn es zu arg mit den Tieren wurde. Die Buben mussten natürlich wieder alle mit dabei sein, damit ihnen ja nichts entging, aber die Mädchen guckten nur von weitem zu. Dann ritt man zum Schützenplatz. Dort war ein Galgen errichtet. An dem Querbalken hing eine tote Gans. Sie war an den Beinen festgebunden, und der lange Hals baumelte lang herunter. Was gab’s denn nun?

Die Bauern ritten in einem weiten Kreis, in einem großen „Kranz“, hintereinander. Darum hieß das Reiten ja das Kränzchen“ reiten. Einzeln ging es dann im scharfen Ritt unter dem Galgen her. Die Reiter versuchten mit schnellem Griff die Gans herunterzureißen. Das war eine schwere Sache. Jeder hätte das gern gekonnt, denn wer sie herunterholte, dem gehörte sie, und das Beste war noch die große Ehre, die er dann im ganzen Dorfe hatte. Noch lange Zeit würde man von ihm sprechen.

Weshalb war es denn gar nicht leicht, die Gans zu bekommen? Die Gans hing so hoch, dass man sich auf dem Pferde mächtig aufrichten musste, um sie zu erreichen. Wenn man die Füße im Steigbügel hatte, ging das besser. Wer aber gar beim schnellen Reiten kurze Zeit auf dem Rücken seines Pferdes knien oder stehen konnte, hatte den begehrenswerten Vogel in Griffnähe. Aber wer konnte so kühn sein?

Selten mal einer, der das oft geübt hatte. Denn das Schlimmste bei der Sache war, dass einer der Bauern, der selbst nicht mit ritt, mit seiner Peitsche in der Nähe des Gänsegalgens stand und die Pferde wild machte, dass sie sich hoch aufbäumten, dass sie ausrissen, wenn sie die Peitsche spürten. Dann hielt sich mancher Reiter an der Mähne des Pferdes fest und konnte nicht nach der Gans greifen. Das gab viel zu lachen!

Aber endlich hatte doch ein verwegener Reitersmann das Glück, den Braten herunterzuholen. Dann ließ man ihn hochleben, und nun ritt der Reiterzug durchs ganze Dorf. Der Sieger hielt die erbeutete Gans stolz auf dem Hals des Pferdes. Er wurde bis zu seinem Haus gebracht, wo man ihn festlich empfing. Die Pferde kamen dann in die Ställe, die Bauern aber gingen nach Dietz, wo bis in die Nacht viel getrunken, viel erzählt, gelacht und auch viel gesungen wurde, mehr laut als schön. – Frauen und Kinder ließen sich da nicht sehen, und das war gut so.

Die tranken zu Hause mit den Kindern Zuckerkaffee und aßen ganze Berge Heidewecken. „Hoiteweggen“ sagte man auf Plattdeutsch. Das waren große weiße Brötchen aus feinem Weizenmehl mit vielen Rosinen und Korinthen darin. Ich habe mir von alten Leuten erzählen lassen, der Name stamme noch aus der heidnischen Zeit, doch ist wohl eher anzunehmen, dass man damit einfach „Wecken“ meinte, die der Bäcker nicht erst kalt werden lassen konnte, weil sie ihm heiß aus dem Backofen weggeholt und gegessen wurden. So etwas gab’s nämlich in Westernkotten nur einmal im Jahre, die drei Fastnachtstage, dann aber satt, auch im ärmsten Hause, und alle Schulkinder nahmen statt des Frühstücksbrotes „Hoiteweggen“ mit. Und auch der Lehrer und die Lehrerinnen aßen an diesem Tage nur „Hoiteweggen“.