2002: Rückblick in eine entschwundene Zeit – Als das Paul-Gerhardt-Haus noch unsere alte Volksschule war

Von Renate Schäfers[1]

[Die Verfasserin verstarb am 3.9.2010.[2] Geboren war sie am 2.3.1936. – Vor ihrem Tod hat sie – neben vielen anderen Aktivitäten – insbesondere an der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen der kath. Kirchengemeinde Bad Westernkotten mitgewirkt.[3] W. Marcus]

Textfeld:    Titelseite der kleinen Festschrift der evgl. Kirchengemeinde aus dem Jahre 2002.

Titelseite der kleinen Festschrift der evgl. Kirchengemeinde aus dem Jahre 2002.

April 1945 – mit einem Handwagen, bepackt mit dem Notwendigsten, oben auf mein Kommunionkleid, sorgfältig eingehüllt, damit es unversehrt bleibt für den Erstkommuniontag, steht meine Mutter mit uns, meiner Kusine Christel und mir, vor der Volksschule in Westernkotten. Es war Kriegsende, und wir hatten unsere Wohnung in der Nordstraße räumen müssen, da amerikanische Soldaten dort Quartier beziehen wollten. Von der Familie des Hauptlehrers Probst, die in der Schule wohnte, wurden wir aufgenommen und zusammen mit einer anderen Familie im Dachgeschoss der Lehrerwohnung untergebracht.

Ich habe – trotz der Sorgen, die vor allem meine Mutter hatte, Vater war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, wir wussten nicht was in unserer Wohnung geschah, die Lage war insgesamt sehr unsicher und bedrohlich – gute Erinnerungen an die Tage in dem Schulgebäude, denn die Familie Probst hat uns sehr umsorgt, besonders an meinem Erstkommuniontag.

Ganz anders begann der zweite, viel längere Aufenthalt in der Lehrerwohnung der Volksschule; Umzugswagen brachten uns und unsere Einrichtung in den Sommerferien im Jahre 1951 dorthin, denn von 1951 – 1970 war unser Zuhause am Kirchplatz 2; das bedeutete, wir wohnten im Schatten der Kirche, wir waren Nachbarn des Pfarrers Becker im Pastorat und der Familie Floren, die im Hause Kessing ein Kolonialwarengeschäft betrieb.

Wir zogen zu viert – mein Vater, der Schulleiter wurde, meine Mutter, Kusine Christel und ich – in die recht große Lehrerwohnung ein, die beim Bau des Hauses wohl für eine kinderreiche Lehrerfamilie vorgesehen war. Mit uns lebten aber immer noch andere Personen im Haus; zunächst Fräulein Thiemeyer, ehemals Konrektorin an einer Schule in Dortmund, sie lebte mit ihrer Nichte im Dachgeschoss; Fräulein Thiemeyer starb im Haus und war auch da aufgebahrt; das war für uns Kinder die erste direkte Begegnung mit dem Tode; es war uns selbstverständlich, dass wir vor dem Zubettgehen im Nachbarzimmer zu dem toten Fräulein Thiemeyer gingen, um gute Nacht zu sagen. Später wohnten die Lehrerinnen Irmgard Ademmer, heute Frau Humpert, und Elisabeth Ludwigt mit uns im Hause, wir hatten guten Kontakt miteinander.

Viel Raum zu haben, ein Gefühl der Freiheit zu verspüren, in der Mitte des Ortes leben zu dürfen – all das machte das Wohnen in der Schule sehr erstrebenswert.

Wir waren in einem Haus voll Leben —- morgens wurden in fünf Klassenräumen die Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Das Lachen, das Rufen, auch das Schreien der Jüngeren erfüllten, vor allem in den Pausen, das Gebäude und den davor liegenden Schulhof. Meines Vaters Klassenraum – er unterrichtete in den Jahren fast immer das 7. und 8. Schuljahr – war nur zehn Schritte von unserer Wohnung entfernt; wenn etwas fehlte oder ein Schüler oder eine Schülerin sich verletzt hatte, schickte Vater die Kinder zu meiner Mutter, sie war immer für alle eine Ansprechpartnerin, auch am Telefon, denn das stand in unserer Wohnung.    Neben den fünf Klassenräumen gab es keine anderen Räumlichkeiten für die Lehrerinnen und Lehrer, so wurden unsere Wohnräume z. B. genutzt zu Besprechungen mit dem Schulrat, für Eltern- oder Einzelgespräche; gut, dass die Wohnung dafür Raum bot, so dass wir als Familie kaum eingeschränkt waren.

Abends wurden häufig einzelne Klassenzimmer für die Sitzungen unterschiedlicher Vereine und Parteien genutzt, es fehlten im Ort nämlich geeignete Räumlichkeiten für solche Anlässe. Vater hatte dann noch „Schlüsselgewalt” auszuüben.

Nach heutigen Wohnverhältnissen und Bedürfnissen hatten wir manche Einschränkungen hinzunehmen. Unsere Familie lebte z. B. auf drei Etagen – parterre war die Toilette, im Dachgeschoss das Bad, in der Mitte unsere Wohnung, die mangels einer Heizung, es war nur eine für die Klassenräume installiert, mit großen Dauerbrennern gewärmt wurde.

Zu der Lehrerwohnung gehörte ein großer Obst- und Gemüsegarten, der vor allem von meinem Vater mit viel Liebe bestellt wurde; dort fand sich oft Pastor Becker ein zu einem Gespräch mit Vater. Kleine Stallgebäude schlossen sich an den Garten an; in den ersten Jahren hatten wir Hühner und einen stolzen Hahn, wir waren also eine richtige Lehrerfamilie auf dem Lande. 

Wir waren sehr glücklich in dem Schulgebäude. Meine nun verstorbenen Eltern haben, nachdem wir nach Vaters Pensionierung ausgezogen waren, häufig zum Ausdruck gebracht: „Das war unsere schönste Zeit in Westernkotten!“ Unterschiedliche Gründe waren sicherlich dafür bestimmend – vor allem wohl das Leben mit den Schulkindern und den Lehrpersonen, dann die Nähe zur Kirche – Vater spielte täglich die Orgel – die Kirchenglocken und das viertelstündliche Schlagen der Kirchturmuhr waren – nach einiger Eingewöhnung – uns Begleitmusik, hinzu kamen die vielfältigen Kontakte, besonders die zu den Geistlichen unserer Pfarrgemeinde, in den letzten Jahren vor allem zu Herrn Pfarrer Norbert Gersmann, und die Möglichkeiten für geselliges Leben.

Ich bin sehr dankbar, in diesem Haus mit viel Atmosphäre über Jahre mein Zuhause gehabt zu haben; nun bin ich glücklich, dass das schöne alte Gebäude, an dem immer noch mein Herz hängt, erhalten geblieben ist und jetzt als „Paul-Gerhardt-Haus“ der Mittelpunkt unserer evangelischen Schwestergemeinde ist.

Mit Jean Paul möchte ich sprechen: Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Renate Schäfers
Textfeld: Renate Schäfers

[1] Dieser Aufsatz ist dem Heft zum 25-jährigen Bestehen des Paul-Gerhardt-Hauses entnommen, das im Jahr 2002 erschienen ist. Renate Schäfers war die Tochter des langjährigen Schulleiters Ferdinand Schäfers und seiner Frau Regine und war später Lehrerin an der Marienschule in Lippstadt.

[2] Vgl. dazu den kleinen Aufsatz von Margit Schild: Schildt, Margit, Zum Tod von Renate Schäfers, in: Jahrbuch Bad Westernkotten 2011, S.139 unter dem Titel: „Sie machte hellhörig“

[3] Marcus, Wolfgang/Peters, Maria/ Schäfers, Renate/ Schildt, Margit/ Wieneke, Josef (Hrsg.)1902 – 2002: 100 Jahre katholische Pfarrgemeinde Sankt Johannes Evangelist Bad Westernkotten, Bad Westernkotten 2002 [300-seitige Festschrift mit 32 Aufsätzen, in dieser Aufstellung nochmals eigens aufgeführt]; eigenständig hat sie folgenden Aufsatz darin veröffentlicht: Schäfers, Renate, Caritas-Konferenz, in: Festschrift 100 Jahre kath. Pfarrgemeinde Bad Westernkotten, Bad Westernkotten 2002, S. 246