1935: 300 Jahre Westernkottener Lobetag


Von Hedwig Probst (mit vier Aufnahmen von Otto Birkle, Lippstadt)
Erstabdruck: Der Patriot 6.7. 1935 [Nachlass Probst Nr.14]

[Auf der Titelseite des damaligen „Patriot“ heißt es: „300. Lobetag in Westernkotten. Das stille Dörfchen Westernkotten sieht am morgigen Sonntag zum 300. Male die große Lobetagsprozession ausziehen. Ein Ereignis, das weit über die Grenzen des Kreises Lippstadt größte Beachtung findet und das Frl. Hedwig Probst in einer reichbebilderten Abhandlung unserer Beilage gewürdigt hat. Wie aus dem schrecklichsten aller Kriegsgespenste — der Pest — in Westernkotten ein vom starken Glaubensleben getragener Festtag gewachsen ist, das schildert die Verfasserin in einem ungemein interessierenden Streifzug durch Geschichte und feierlichen Verlauf der Lobetagsprozession.“ Die Fotos ließen sich nicht transkribieren. Hier nun der Text. WM]

Am morgigen Sonntag findet zum 300. Male die große Westernkottener Lobetagsprozession statt. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir nachstehend eine ausführliche Abhandlung über Entstehung und Verlauf des Lobetages.
Westernkotten fiel im Jahre 1622 dem Plünderungs- und Vernichtungs-Wahn Christians von Braunschweig zum Opfer. Nur teilweise wurde der Ort wieder aufgebaut. Hungersnot und ungünstige Wohnverhältnisse hatten das schrecklichste aller Kriegsgespenste im Gefolge die Pest. Alles Leben vernichtend, raste sie von Haus zu Haus. Sie sprang von hohen


Abbildung 1: Trägerinnen der Muttergottes-Statue (im Schäferkamp)

Dächern auf strohgedeckte Hütten, im Zickzack, straßauf, straßab. Ihr zischender Brodem drang durch Fenster und Türen und suchte sich schlängelnd den Weg durch jeden kleinsten Spalt und die schmalste Ritze. Erbarmungslos spie die Mörderin ihr Gift in jedes Wesen. Ob Mensch oder Tier — niemand konnte ihr entrinnen.
Überall saß der schwarze Tod, im Keller, auf der Tenne und im höchsten Gebälk. Er ließ sich nicht bannen. Salben und allerlei Heilgetränk sollten den Menschen nützen. Sie halfen nichts; und ebenso vergeblich war es, die Pest durch Räucherschwaden zu vertreiben. Ihr Gifthauch war stärker als die kräftigsten Kräuterdünste. So brachte denn jeder Tag neues Sterben. Die Totengräber schaufelten Loch an Loch in langen Reihen. Mit großen Wagen zogen sie durchs Dorf und holten die Leichen aus den Häusern, an deren Türen ihnen ein Strohwisch anzeigte, dass hier ein Opfer der Seuche lag. Es waren der Toten zu viel, als dass jeder in einen Sarg gebettet werden konnte. Das Werktagskleid — wohl auch ein Linnentuch — waren Sterbekleid und Sarg zugleich. Darüber fiel die braune Scholle, schwer und dicht. — Vom Turme klagte die Totenglocke so laut und bang, dass ihr Geläute zum leisen Wimmern wurde und gang verstummte. Das Dorf war still von Leid und Tränen, den in das Grab sinkenden nachgeweint, Ibis fast niemand mehr zum Weinen übrigblieb.

Abbildung 2: Prozession unter der Josefslinde während der Verlesung des Lobetagsbriefes

Wegen der Ansteckungsgefahr wurden die Opfer der Pest nicht auf ihrem Pfarrfriedhof an der Erwitter Kirche [Westernkotten war bis zum Jahre 1902 Filiale der Pfarrei Erwitte. Die gemeinsam erlebten Schicksale der Pestjahre führten zu engster Verbundenheit der Überlebenden, die sich bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts für Abpfarr-Bestrebungen einsetzten. Erwitte brachte den Wünschen wenig Verständnis entgegen und widersetzte sich allen diesbezüglichen Vorschlügen, bis Westernkotten durch bischöflich Erlass vom 16. 2. 1902 zur selbständigen Pfarre erhoben wurde. HP) begraben, sondern erhielten eine gemeinsame Ruhestätte in der Nähe des Hellwegs, da, wo heute die Feldflur den Namen „Alter Kirchhof“ trägt.
Nur 19 Menschen bewahrte ein gütiges Geschick vor dem Verderben. In höchster Not einte sie das Gebet. Sie bestürmten den Himmel um Rettung und machten das Gelübde, zu Ehren der Allerheiligsten Jungfrau alljährlich einen Bußtag mit darauffolgender Prozession zu halten, falls sie vom Uebel erlöst würden. Das ist der Ursprung und Sinn unseres heutigen Lobetages. Durch Gottes Hilfe wurde die Nacht der Seuche gebrochen. Die kleine Schar der Geretteten hielt in Dankbarkeit ihr Versprechen und hinterließ den Nachkömmlingen als treues Vermächtnis folgende Niederschrift ihres Schwures, mit der Bitte, ihrem Gelöbnis treu zu bleiben.
Der Lobetagsbrief
[Es folgt der bereits mehrfach zitierte sog. Lobetagsbrief, der mit dem Eintrag „Westernkotten, im Jahre 1635″ endet. WM]
Den neunzehn Geretteten folgten von Jahr zu Jahr mehr dankbare Beter auf ihrem Prozessionswege. Eine Generation erzählte der anderen von den schrecklichen Pestjahren und der wundersamen Hilfe der Gottesmutter. Gleich dieser Kunde pflanzte sich auch der Schwur fort, in Treue den Lobetag zu halten. Der Prozessionsweg wurde genau festgelegt. An vier Stationen erteilte der Priester mit der Monstranz dem Volk den sakramentalen Segen. So waren diese Stätten besonders geheiligt. Man bepflanzte sie mit Lindenbäumen. Seit 200 Jahren stehen zwischen den mächtigen Stämmen steinerne Heiligenhäuschen, nach deren Bildnissen die Linden benannt sind.
Die Josephslinde schirmt mit ihren breiten Zweigen den schmalbedachten Bildstock des heiligen Joseph. Ich entziffere die in Stein gemeißelten Worte.

Abbildung 3: Inschrift auf dem Heiligenhäuschen an der Josefslinde
In der Inschrift liegt ein Chronostichon. Die großen Lettern sind römische Ziffern, aus deren Addition sich die Jahreszahl 1699 ergibt.

Abbildung 4: Die alte Lobetagsfahne
Am Marienhäuschen unter der Friedhofslinde las ich nur die Jahreszahlen 1684 und darunter 1882. Die verschiedene Gesteinsart des Ober- und Unterbaues lässt vermuten, dass der stark verwitterte Sockel des 1684 erbauten Bildstockes im Jahre 1882 durch einen neuen ersetzt wurde. Die Kanten der Wände, die eine Pietà einschließen, sind fast handbreit ausgehöhlt. An dem weichen Sandstein wetzten die Kinder ihre Sicheln, wenn sie zum Grünschnitt ins Feld zogen. Unter dem Bildnis des hl. Antonius steht in verwittertem Stein

Abbildung 5: Inschrift auf dem Heiligenhäuschen unter der Antoniuslinde
Die übrigen Lettern sind vom Regen und Schnee im Laufe der Zeit weggewaschen.
Die Schluss-Station ist St. Franziskus Xaverius geweiht. Geschickte Steinmetzhände haben ein Gebet in den Unterbau hineingemeißelt:

Abbildung 6: Inschrift auf dem Heiligenhäuschen unter der Linde am Schützenplatz

Abbildung 7: Die Prozession bei Kemper (im Hintergrund die Saline).

 Abbildung 8: Die alte Pfarrkirche in Westernkotten
Durch die Jahrhunderte waren die vier Heiligenhäuschen Zeugen echter Glaubenstreue. Die Vorfahren hielten sich mit peinlicher Genauigkeit an die Vorschriften des Gelübdes. Vor allem der Lobetags-Samstag galt ihnen heilig. Sie fühlten sich zu eifrigem Beten und strengem Fasten verpflichtet.
Auch das Vieh mutzte den ganzen Tag hungern. Darum ist es wohl zu erklären, dass die Stille des Feiertages oft unterbrochen wurde vom unwilligen Brüllen, Grunzen und Kläffen allerlei Getiers.
Die Prozession am folgenden Sonntag verlief unter größter Beteiligung der Dorfeingesessenen. All denen, die sich mit ihnen blutsverwandt fühlten, war es eine Freude, jedes Jahr zum großen Heimatfest zurückzukommen. Zahlreiche Geistliche aus der Umgegend halfen, den Gottesdienst feierlicher zu gestalten. Ein Vorrecht der Mädchen war es, das Symbol Marias, duftende Lilien, im Festzuge zu tragen. In allen Gärten leuchteten zur Julizeit diese weißschimmernden Blüten mit ihrem betäubend schweren Duft. Acht Lobetagsjungfrauen trugen eine Madonnenstatue, deren kunstvolle Kleider mit Kriegsehrenzeichen tapferer Kämpfer schier besät waren.
Leider hat eine spätere Generation, die wenig Sinn für Kunst und Heimaterbe hatte, die Muttergottesfigur mitsamt ihrem Schmuck gegen eine weniger wertvolle Holzstatue eingetauscht.
Und wo ist die alte geblieben? Niemand weiß es. — Ein Gruppenbild der Prozession aus früherer Zeit verdient besonders hervorgehoben zu werden. Die Schützenkompagnien führten in ihren Reihen die Figuren der Heiligen, die sie als Patronen verehrten. Die Landwirte folgten dem heiligen Antonius, die Handwerker dem heiligen Josef. Die geschnitzten Bildwerke waren geschmückt mit einer Kette aus Talern.
Es war das Geschmeide des besten Schützen. Alljährlich reihte sich dem Behang ein neuer Taler an, vom „König“ gestiftet. Und wenn einmal das Geld zur Deckung der Unkosten des Schützenfestes nicht reichte, bezahlte man die Schuld kosten des Schützenfestes nicht reichte, bezahlte man die Schuld silberne Zier der Heiligen in jedem Jahre verschieden war.
Der Morgen des Lobetages, ganz dem Gottesdienste geweiht, endete zumeist mit einem Essen. Wie hätte der Tag ein Fest sein können, wenn neben der Seele nicht auch der Leib zu seinem Recht gekommen wäre! Allerlei Düfte aus Küche und Keller verrieten in den Häusern der Reichen und Armen die Geheimnisse tüchtiger Köchinnen. Die Allerärmsten, bei denen das Geld zur Beschaffung eines besonderen Gerichtes fehlte, holten sich im Dunkeln vom reichen Nachbarn die Federn der Mastgans und warfen sie auf die eigene, an der Straße liegende Dungstätte. So hatte es wenigstens den Anschein, dass auch in diesem Hause ein Festmahl auf dem Tisch stand.
Fremde Prozessionsteilnehmer, die im Dorfe weder Verwandte noch Freunde hatten, konnten in jedem Hause an reichgedeckter Tafel ein gastliches Plätzchen erhalten. In manchen Familien fanden sich am Lobetage jahrzehntelang dieselben fremden Gäste ein.
Alter Sitte gemäß ließen die Erbsälzer an die zahlreich erschienenen geistlichen Herren Einladungen ergehen. Nach verbrieften Rechten nahmen an dem Festmahle auch die Organisten und Küster der Dorfkirche und früheren Pfarrkirche von Erwitte teil. Die Gastpflicht ging reihum. Jedes Jahr
wurde sie in freigebiger Weise in einer der Sälzerfamilien erfüllt. Die nicht ortsangesessenen Erbsälzer, Freiherr von Landsberg-Velen und Baron von Papen-Antfeld, gaben das Essen im Saale des Kurhauses. Als später die Bewirtung der Ehrengäste in das Pfarrhaus verlegt wurde, bestritten die Salzherren nur noch die Kosten.
Der Verlauf der Lobetagsfeier
Durch drei Jahrhunderte hat sich die Lobetagsfeier alljährlich wiederholt. In guten Jahren und auch in schlechter Zeit hielt Westernkotten in Treue das Versprechen der Vorfahren. So ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. Wir begehen die Feier am 2. Juli oder am darauffolgenden Sonntag. Nach einer Woche fleißigen Rüstens zur äußeren Verschönerung des Festes mahnen am Freitagnachmittag um 3 Uhr Glockengeläute und donnernde Böllerschüsse, auch an die innere Vorbereitung zu denken. Bis in die späten Abendstunden scharen sich die Gläubigen um die Beichtstühle. Der Samstag gilt wie in früheren Jahren als Fast- und Bußtag, wahrt aber dabei doch den hohen Festcharakter. Während die Erwachsenen streng zu den alten Geboten stehen und sich jeglicher Fleischspeise enthalten, sind die Kinder von dieser Pflicht entbunden. Das Vieh, das früher mit den Menschen fastete, braucht heute nicht mehr zu hungern. Zu Bußandachten und Predigten sammelt sich Groß und Klein im Gotteshause und jegliche Arbeit ruht. Die sonntägliche Festfeier beginnt in aller Frühe. Um 4 Uhr wecken Böllerschüsse, und die Glocken rufen zur ersten heiligen Messe. Ununterbrochen zieht ein Strom von Betern in die Kirche, zur Kommunionbank. Kein Einheimischer bleibt zurück. — Immer mehr Menschen sammeln sich auf dem Kirchplatze. Dicht schließen sich die Reihen.
Um 6 Uhr hallen wieder Schüsse. Das ist das Zeichen zum Beginn‘ der Prozession. Ein Kreuz wird vorangetragen, Schulkinder folgen, und in bunter Reihe schließen sich Jungmädchen, rüstige Frauen und Greisinnen an. Weißgekleidete Kinder geben als „Engelchen“ einer Marienstatue das Geleite, die von „Muttergottesmädchen“ auf den Schultern getragen wird. Dieses Ehrenamt wird nur sittsamem Benehmen und tugendhaftem Streben zum Lohne. In weißem Gewand, mit schwarzer Schürze, seidenem Umhang und feinem Spitzenhäubchen schreiten die Trägerinnen gebeugt unter ihrer teuren Last. Dann kommen wieder Engelchen. Sie streuen dem Allerheiligsten Blumen. In endlosen Reihen folgen Männer und Jünglinge dem Sanktissimum. Straßen und Häuser sind festlich geschmückt. Durch Triumphbögen zieht die Prozession. Fahnen flattern. Vor unzähligen Hausaltärchen schenken Blumen ihr duftendes Blühen dem Herrn, und weiße Kerzen verzehren sich in warmer Glut zu seiner Ehre. Bis zum Dorfausgang haben Menschenhände den Weg des Herrn geschmückt. Dann zieht der Zug durch weite Felder. Wiesen und Äcker tragen in ihrer Fruchtbarkeit das große Gotteslob.
Zur Josefslinde strebt die Schar der Gläubigen. Knorrig wurzelt der Baum im braunen Erdreich. Kraft von Jahrhunderten ließ aus dem mächtigen Stamm das große Blätterdach werden, unter dem sich klein und schmal das Heiligenhäuschen duckt. Wimpel wehen lustig im Winde. Girlanden zieren in weitem Bogen das Heiligtum, und über einen Blumenteppich bringt der Priester die goldene Monstranz in den steinernen Tabernakel. Dicht scharen sich die Menschenreihen um den kleinen Hügel. Aus Priestermund kommt laut und deutlich das Gelöbnis, das die Vorfahren im Lobetagsbrief hinterlegt haben. In tiefer Ergriffenheit lauscht die Menge, und jeder sagt aus ganzem Herzen ein stilles „Ja“ zum neuen Treueschwur „bis zum Ende der Welt, so lange unserer Nachkömmlinge Einige übrig sein werden.“
Wenn dann aus der Monstranz Gott seine Kinder segnet, beugen sich alle Knie. Ehrfürchtig senken sich die Häupter, und in stummem Neigen salutieren die Fahnen.
Die Prozession zieht weiter durchs Feld, um reiche Ernte betend:
„Alles kommt durch deinen Segen,
Du gibst Sonnenschein und Regen,
Dass die Saaten froh gedeihn,
Reiche Ernten uns erfreu‘n.“
Das nächste Ziel ist die Station an der Friedhofslinde. Eine Kanzel steht auf der Anhöhe im Schutze des Baumes. Bienen kreisen in den ersten warmen Sonnenstrahlen um die unzähligen duftenden Blüten. In das wundersam melodische Summen und Surren in süßer Luft tönen die Worte des Priesters. Sie sind ein Lobgesang auf die Himmelskönigin und wecken Marienminne in allen Herzen. Nach dem sakramentalen Segen gedenken die Gläubigen in den Gebeten derer, die auf dem Gottesacker ruhen. Dumpf und schwer hallen Trauerweisen.
„Misere mei Deus secundum magnam misericordiam tuam.“
Still wandert der Blick zu lieben Gräbern in den langen Reihen, und Lobetagsfriede senkt sich über Lebende und Tote, wenn leise der Schluss verhallt: „Requiem aeternam dona eis, Domine, et Lux perpetua luceat eis.“
Die Prozession setzt sich wieder in Bewegung. Lieder wechseln mit Gebeten. Nur kurz ist der Weg durch die Feldflur, und bald grüßen am Dorfeingang Triumphbögen. Durch schmale Straßen geht die Menge zur Antoniuslinde. Leis murmelt der Bach in den frommen Gesang „Sankt Antoni, hochgepriesen, Große Ehr‘ hat dir erwiesen Jesus, den man als ein Kind Stets an deiner Seite find’t.“
Die Schluss-Station ist an der Franziskuslinde. Aus Feldwegen gelangt der Zug der Beter dorthin, von einer vielköpfigen Schar bereits erwartet. Noch einmal segnet der Heiland aus der Monstranz die Gläubigen und wird dann vom Priester auf den Altar getragen, der für das Levitenamt auf dem angrenzenden Schützenplatze aufgeschlagen ist. Im Halbkreise stehen die Engelchen. Schulkinder bilden die zweite Reihe, umsäumt von den Erwachsenen. Den Altar umgeben die Fahnenabordnungen. Drei Priester schreiten zum heiligen Amt, und mit ihnen betet das Volk: „Introibo ad Altare Dei.“
Deutsche Messgesänge umrahmen die Opferfeier. — Nach dem Schlusssegen ordnen sich die Reihen zum Rückzug in die Kirche. In brausenden Akkorden jubelt die Orgel, und in frohem Dank fallen jauchzende Stimmen ein. Te Deum Laudamus!
Das ist unser Lobetag. Schon die Kinder wachsen mit dem Gedanken auf, dass dieses Fest unser größtes ist, und dass uns das alte Gelübde zur Treue verpflichtet. Die alljährliche eindrucksvolle Festfeier gibt unserem Glaubensleben neue Kraft. Sie lässt unsere Liebe zur Gottesmutter wärmer werden. Immer mahnt uns der Marienaltar unserer Kirche, ihr dankbar zu sein. Das holzgeschnitzte Altarbild zeigt die große Helferin, Maria. Schlank und groß ruht der Körper auf goldenem Fuß. In weiten Falten fließt von den schmalen Schultern das lichtrote Gewand durch einen Gürtel leicht geschürzt. Das Diadem auf dem feinen Frauenkopf mit dem Mutterlieben Antlitz kündet heilige Hoheit, aber der gesenkte Blick Marias verrät, dass sie die Krone in Demut trägt. Ihre Hände breiten den blauen Mantel aus. Zwanzig Menschen suchen Schutz unter ihm. Mit Angst-gepressten Händen und Augen voll starken Vertrauens erflehen sie bei ihrer Beschützerin Hilfe aus Not und Tod. In braunen Kleidern stehen die Ärmsten dichtgedrängt. Die bleichen, abgehärmten Gesichter sind umrahmt von Spitzenhauben, unter denen die lockige Haarfülle haltlos hervorquillt. Wer nicht in jeder Miene lesen kann, was die Zwanzig beten, wird durch ein Schriftband zu Füßen des Bildes belehrt: O Mater DVC tVos WesterCottenses. – Das Zepter in Marias Hand ist ein Zeichen ihrer Macht, und ihr liebevoller Blick besiegelt das Wort, das auf dem oberen Schriftband eingezeichnet ist: DVCaM Vos Wester-Cottenses.
Das Altarbild hat eine Holzeinfassung in reichgeschnitzten Blumenornamenten. Seine Entstehung ist jüngeren Datums. – Die Art der Darstellung geht zurück auf ein altes Fahnenbild, das nur am Lobetage den Gläubigen gezeigt und voller Ehrfurcht in der Prozession getragen wird. Das Chronostichon auf den Schriftbändern nennt anno 1720 als Ursprungsjahr der Fahne. Eine erstmalige Nachbildung, in Oel gemalt, schmückte lange Jahre den Chorbogen unserer Pfarrkirche, bis sie 1890 neuen Wandgemälden Platz machen musste und unter altem Kirchengerümpel verloren ging.
Meine Schilderung des Lobetages soll nun beendet sein. Den Fremden, die unseren Ort nicht kennen, will ich noch sagen. Ich habe vom Fest so viel geschrieben und auch von den kleinsten Dingen treu berichtet, weil ich nichts Schöneres von der Heimat wusste, denn durch den Lobetag wurde das stille Dörfchen in weiten Kreisen bekannt.

Abbildung 9: Das Gradierwerk, das 1932 erbaut wurde und noch heute im Kurpark steht