1957: Karl Weierstraß – Ein deutsches Gelehrtenleben im Umriss

Von Dr. Flaskamp

Abdruck nach einer Vorlage aus: Flaskamp, Dr., Karl Weierstraß – Ein deutsches Gelehrtenleben im Umriss; in: Die Glocke vom 20./21.7.1957

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Der große Mathematiker Karl Weierstraß (1815/97) hat unbeschadet seiner sonsthin streng fachlichen Konzentration [1] ein Parergon verfasst, das durchaus heterogen anmutet: er behandelte 1845 als Progymnasiallehrer zu. Deutsch-Krone – die Pädagogik des Sokrates. [2] Besser gesagt, er veröffentlichte, durch eine zufällig gebotene Gelegenheit angeregt, diese eigentlich nicht für den Druck vorgesehene, beiläufig gestaltete Schrift; deren Entstehung auch schon einige Zeit zurücklag. Man wird darin wahrscheinlich eine Aufgabe seiner münsterischen Lehramtsprüfung von Ostern 1841[3] oder, eher noch, seines münsterischen Kandidatenjahres 1841/42 zu erblicken haben. Sie nimmt sich nämlich stark schulmäßig aus. Der Verfasser lebt in den Schulbegriffen „Fach, Stoff, Methode“ und spricht daher von der „Sokratischen Lehrweise“, deren Bedeutung, Geltung, Brauchbarkeit zeitlich, fachlich, stofflich bedingt sel.

Zu wenig hat er dabei doch wohl die Sokratik als absolut gültiges Prinzip gesehen, als Folgerung aus der nüchternen, auch durch die Erfahrung immer wieder bestätigten Überlegung, dass jedwede unterrichtliche und erziehliche Einwirkung auf ein Anpeilen geistiger und sittlicher Dispositionen (Ideen) ausgehen muss und in ihrem Ergebnis ganz und gar vom Vorhandensein solcher natürlichen Anlagen abhängt. Er war sich auch kaum oder kaum schon dessen bewusst, wie stark sein eigenes Wirken instinktiv dieser recht verstandenen Sokratik huldigte, und vielleicht, ebenso wenig, wie sehr die „Ideen“ im Sinne des Sokrates seinen persönlichen Werdegang ausgerichtet hatten. Die Anlagen waren es doch gewesen, die den Rechtsstudenten in die mathematische Bahn wiesen und damit jene wissenschaftliche Entwicklung begründeten, die ihm tatsächlich gelungen ist.

Karl Theodor Wilhelm Weierstraß wurde am 31. Oktober 1815 zu Ostenfelde {m vormals Fürstbischöflich-münsterischen Amte Stromberg geboren [4] und am 2. November darselbst getauft. Der Vater Wilhelm Weierstraß (1789/1869) stammte aber aus einer altreformierten Handwerker- und Kaufmannsfamilie der bergischen Stadt Mettmann [5] und war, kaum zweifelhaft, erst anlässlich seiner Verheiratung mit der Hoflakaientochter Anna Maria Franziska Theodora Vonderforst aus der Fürstbischöflich-Paderborner Residenz Neuhaus. (1815) katholisch geworden. Theodora Vonderforst mochte vorwiegend engerischen Blutes sein, war aber auch keineswegs westfälischer Herkunft. Von einem „waschechten Westfalen“, wie man allein schon auf Grund der Geburt im durchaus westfälischen Kirchdorf Ostenfelde gemeint hat, [6] kann somit bei Karl Weierstraß keine Rede sein. Auch Kopfbildung, Geist und Charakter zeugen viel mehr für rheinfränkisches und auch engerisches Volkstum als für westfälische Art.

Wilhelm Weierstraßens Berührung mit dem westfälischen Kirchdorf Ostenfelde ist rein zufällig und auch nur vorübergehend gewesen. Er war, wohl nach geleistetem Militärdienst, Sekretär beim früheren Fürstbischöflich-Münsterischen Kavallerieoffizier Franz Joseph Harier (1759/1826) geworden, der damals zu Ostenfelde die Nagel-Vornholzschen Güter verwaltete und daneben seit 1809, also aus der Großherzoglich-Bergischen Zeit, das Amt des Maire = Gemeindebürgermeisters von Ostenfelde bekleidete. Eben diesem Großherzoglich-Bergischen „Bürgermeister“ war der bergische Landsmann Weierstraß als rechte Hand zugewiesen. Er ist dann aber über die Großherzoglich-Bergische Zeit hinaus, und zwar ungefähr so lange in Ostenfelde verblieben, [7] wie Harier lebte. Alsdann fand er eine Beschäftigung als Oberkontrolleur bei der preußischen Steuerverwaltung in Güters1oh. Hier ist er seit dem Frühjahr 1826 bezeugt. [8]

In Ostenfelde würden außer Karl (1815) die Kinder Franz (1817), Pauline (1818), Peter (1820), Antonette (1822), Klara (1823), zu Gütersloh noch Elisabeth (1826) geboren. Zu Gütersloh sind aber auch 1826 die Kinder Franz und Antonette in den Masern gestorben, am 21. Oktober 1827 dazu im Nervenfieber deren Mutter. Zu Jahresanfang 1828 wurde Weierstraß Steuerassistent bei der Provinzialhauptverwaltung zu Münster. Dort verheiratete er sich am 5. Juli 1828 in der Lambertipfarrei mit Maria Theresia, aber genannt Klementine Hölscher aus Herbern. Im Frühjahr 1829 kam er als Assistent und dann (1831) Rendant an das Hauptzollamt zu Paderborn, wo die Söhne Karl und Peter auch seit Ostern 1829 das Gymnasium besuchten, jener 1834 und dieser 1838, der eine wie der andere nach hervorragender Bewährung in allen Unterrichtsfächern die Reifeprüfung bestand. [9]

Zu Jahresanfang Zu Jahresanfang 1840 wurde Wilhelm Weierstraß Salzfaktor, d. i. Rendant der Salzsteuerkasse, zu Westernkotten bei Lippstadt. [10] Er wohnte in der verbliebenen örtlichen „Salzfaktorei“. [11] Hier hat auch der Sohn Karl später noch während der Deutsch-Kroner und dann Braunsberger Gymnasialferien geweilt; beispielsweise ist seine berühmte Abhandlung „Zur Theorie. der Abelschen Functionen“ (1954), die seinen großen Aufstieg begründete, [12] von der „Saline Westernkotten in Westfalen, 11, September 1853“ datiert.

Aber wohl bald nach dem Tode seiner zweiten Gattin, am 29. Juni 1858 zu Westernkotten gestorben, trat Weierstraß in den Ruhestand und übersiedelte nach Berlin, wo Karl mittlerweile (1856) Mathematiklehrer am Gewerbeinstitut, dem Unterbau der späteren Berliner Technischen Hochschule, geworden war. Dort (Linksstraße 25), ist er am 24. August 1869 entschlafen; am 27. August wurde er auf dem Friedhof von St. Hedwig beerdigt. [13] Die Tochter Pauline war schon 1843 zu Westernkotten verschieden, Die Töchter Klara und Elisabeth (Elise) Betreuten fortan den Haushalt ihres Bruders Karl, während der Bruder Peter seit 1850 als Altsprachen- und Deutschlehrer am Progymnasium, ab 1855 Gymnasium zu Deutsch-Krone tätig war. [14]

Karl Weierstraß hatte nach dem Abitur auf Wunsch des Vaters zu juristischem Studium die Universität Bonn bezogen, aber aus eigener Neigung mehr mit mathematischen Fragen sich beschäftigt. Nach sieben Semestern brach er in Bonn ab, verblieb für ein halbes Jahr im Elternhause und ging dann zum Studium nur mehr der Mathematik nach Münster. Hier nahm Christoph Gudermann [15] sich seiner an, führte ihn in sein eigenes Interessengebiet (Kugel, Ellipse, Hyperbel) ein und weckte seinen Sinn für die analytischen Funktionen. Nach 2 ½ Jahren war er fachlich bereits derart gefördert, dass man ihm für die Lehramtsprüfung (1841) eine Aufgabe eigener Wahl gestattete: „Bemerkungen über die analytischen Facultäten.“ [16] Die Infinitesimalrechnung ist dann zeitlebens ein eigentliches Arbeitsgebiet geblieben.

Nach der Prüfung wurde Weierstraß Lehramtskandidat am Paulinum zu Münster, aber schon 1842 Progymnasiallehrer zu Deutsch-Krone in Westpreußen. [17] Die polnisch durchsetzten Ostmarken boten damals katholischen Anwärtern aus dem weniger verdächtigen Westen frühe Anstellung und, falls sie sich bewährten, sicheren Fortschritt. So auch hier. Die Anfänge waren allerdings für Weierstraß recht bescheiden: Er hatte außer in Mathematik und Physik auch in Geographie und Biologie, sogar im Zeichnen, Schönschreiben und Turnen zu unterrichten und nebenher den Unterhaltungsteil der „Deutsch-Kroner Zeitung“ (seit 1839) hinsichtlich der politischen und kirchlichen Einstellung zu überwachen: Immerhin konnte er auch schon in diesem beengten Wirken seine größere Begabung offenbaren: als Programmabhandlungen veröffentlichte er 1843 seine Münsterische mathematische Prüfungsarbeit  [18] und 1845 den Aufsatz über die „Sokratische Lehrweise“ . [19] Solche Regsamkeit hat ihn offenbar empfohlen: 1848 wurde er Lehrer allein der Mathematik am Gymnasium zu Braunsberg im Ermland, dem damals der namhafte westfälische Lateinmeister Ferdinand Schultz, der spätere Provinzialschulrat zu Münster, stand. [20]

Inzwischen hatte Weierstraß privatim sich eingehend mit den Arbeiten des frühvollendeten norwegischen Mathematikers Niels Hendrik Abel (1802/29) befasst und seine Aufmerksamkeit wesentlich der Integralrechnung zugewendet. Als Braunsberger Programmabhandlung ließ er 1849 einen. „Beitrag zur Theorie der Abelschen Integrale“ erscheinen [21],  überprüft 1854 unter dem Titel „Zur Theorie der Abelschen Functionen“ in August Leopold Crelles „Journal für die reine und angewandte Mathematik“ wiederholt. [22]  Diese Studie zeugte dermaßen von Sorgfalt, Scharfsinn, wissenschaftlichem Urteil, zeitigte auch so viel Ausweitung der Erkenntnis, dass die Königsberger Universität auf Richelots [23] Empfehlung dem nicht durch Prüfung promovierten Verfasser 1854 die Doktorwürde verlieh und ihm so nachträglich die Möglichkeit zu akademischem Wirken eröffnete. Durch Vermittlung Alexander von Humboldts wurde er bereits 1856 Mathematiklehrer am Berliner Gewerbeinstitut, dann außerordentlicher Professor an der Universität und Mitglied der Akademie, 1864 mit einem eigens ihm fundierten dritten mathematischen Ordinariat an der Universität bedacht, wo neben ihm Ernst Eduard Kummer (1810/93). und der eigene Schüler Leopold Kronecker (1823/91) tätig waren.

Mehr als ein volles Menschenalter hat Weierstraß an der Berliner Universität gewirkt, ist auch 1873/74 deren Rektor gewesen [24] und wurde 1875 ebenso wie vordem die führenden deutschen Mathematiker Jacobi, Gauß und Dirichlet Friedensritter des Pour le merite. Sein wissenschaftliches Spielfeld freilich war längst nicht so ausgedehnt, wie jene sich bewegt hatten. Aber er imponierte durch ungewöhnliche Gründlichkeit in seinem engeren Bereich und die Genialität seiner intuitiven Erkenntnisse, nicht minder durch die Strenge persönlicher Disziplin, kraft deren er die unterrichtliche Behinderung durch schweres Herz- und Nervenleiden weitgehend weitmachte.

Seine Unterweisungen wurden geradezu als mathematische „Offenbarungen“ empfunden, deren die jüngere Generation mit dem- „autos epha“ gläubiger Zuversicht sich zu erinnern pflegte: „Weierstraß selber hat es gesagt!“  Auch ob seiner menschlichen Fürsorge war und blieb er verehrt. Der hochbegabten russischen Generalstochter Sonja Kowalewsky [25] gewährte er, wo die Berliner Universität studierende Frauen noch nicht zuließ, durch Privatunterricht so viel Förderung, dass sie zu Göttingen in absentia promovieren und dann zu Stockholm im akademischen Lehramt wirken konnte. Den Briloner Gymnasiallehrer Wilhelm Killing [26] empfahl er für das Hosianum zu Braunsberg und ebnete ihm damit den Weg zur Münsterischen Akademie und (geit 1902) Universität. Dem politisch bewegten Leben jener Jahrzehnte der Reichsgründung und nationalliberalen Reichsgestaltung hat Weierstraß sich ziemlich ferngehalten. In jüngeren Jahren hatte er an Georg Herweghs Freiheitsliedern sich erbaut und. War dann auch weiterhin wohl mehr Demokrat geblieben, als dass die nunmehr zünftige Richtung ihn eingefangen und eingeschmolzen hätte. Bismarck zumal hat mit all seinem erfolgreichen Glücksspiel ihn nicht geblendet. Zwar machte er in seiner Berliner Rektoratsrede vom 3. August 1874 über die innere Entwicklung des Hochschulstudiums [27] der Falkschen Kulturpolitik ein Kompliment; aber, wenigstens dem Anschein nach, so unglücklich, wie es  bei einem „gezwungenen Gelübde“ sich zu ergeben pflegt: durch eine freundliche Geste zugunsten gerade jener Falkschen Neuerung, die vielleicht am allerwenigsten überlegt war, des 1873 angeordneten „Kulturexamens“ der Theologiestudierenden, wofür zwar an allen Universitäten nichtgeistliche Prüfungskommissionen bestellt wurden, wozu jedoch kein einziger, wenigstens katholischer Theologiestudent sich einfand. Gleichzeitig aber determinierte er das vermeintliche freilich schlechthinnige wissenschaftliche Morgenrot der Reformation und lobte den hohen wissenschaftlichen Bildungsstand der katholischen Geistlichen, allerdings und betont nur seiner westfälischen Jugendzeit, wovon man immerhin an der Berliner Universität seither nicht viel Lobenswertes zu hören gewohnt war.

Andere Universitätslehrer, die neben ihm wirkten, Gneist, Virchow, Treitschke, Mommsen, hatten eher leidenschaftlich als besonnen dem politischen Kampf sich verschrieben.

Für den Mathematiker Weierstraß konnte dieses Hickhack nicht verlockend sein. Seine wissenschaftliche Arbeit war um absolute Werte bemüht und musste daher grundsätzlich Distanz halten gegenüber den immerdar sehr relativen politischen Einsichten und Absichten. Er respektierte Staat und Kirche als vorhandene Größen, auch als Träger hoher Verantwortung, und nahm keinen Anlass, an dem Mancherlei sich zu reiben und zu ärgern, was bei ihnen immerdar lückenhaft war, unzulänglich blieb, menschlich ist.

Karl Weierstraß hat trotz seiner labilen Gesundheit ein Alter von mehrals80Jahren erreicht. Er starb am 19. Februar 1897 zu Berlin (Friedrich-Wilhelm-Straße 14) und wurde am 22. Februar auf dem Friedhof von St. Hedwig beerdigt. [28] Die Schwester Klara war bereits am 26. März 1896, die Schwester Elisabeth ist am 12. Juli 1898 entschlafen; die eine wurde neben dem Vater, die andere neben dem Bruder bestattet. Peter Weierstraß hat alle seine Geschwister überlebt. [29] Sie waren sämtlich unverheiratet geblieben. Ihr Beharren im katholischen Bekenntnis, auch unbeschadet wirrer Zeitverhältnisse und einer ganz überwiegend fremden Umgebung, ist bemerkenswert; so stark hatte doch die katholische Jugend ihnen sich eingeprägt.

Den heimgegangenen Karl Weierstraß würdigte die wissenschaftliche Welt des In- und Auslandes als größten Mathematiker des schließenden. 19. Jahrhunderts. [30]

Die Berliner Akademie edierte seine gesammelten Werke, [31] mit hohem Respekt gegenüber allem, was er zwischen der Lehramtsprüfung von 1841 und dem Ausgang ‚seiner Tage als Ergebnisse seines Nachdenkens und seiner funkenhaften Einsichten bereitstellte, Auch im mathematikgeschichtlichen Schrifttum ist sein Name „‚trotz einigen Wandlungen des Urteils nicht verklungen. [32]

Nach wie vor verehrt man Augustin Ludwig Cauchy (1789/1857), Karl Weierstraß und Bernhard Riemann (1826/66) „als die führenden Köpfe. der analytischen Mathematik und eigens Weierstraß als dem strengsten Vertreter der Funktionenlehre. In seiner Heimatgemeinde Ostenfelde wurde die Stätte seiner Geburt durch eine Denktafel ausgezeichnet.

Ähnlich hat man 1930 am Paderborner Gymnasium Theodorianum neben anderen überragenden Zöglingen der Neuzeit [33] ihn genannt, sie alle der Schule selbst zur Ehre und der studierenden Jugend nach Geist und Charakter zum schlechthinnigen Vorbild:

„Hos, Theodore, Dei

patriaeque vocasti ad amorem,

doctrina et dociles

excoluisti animos.

Hos dein ingenium

virtusque ad sidera vexit:

hosque sequi, suboles,

te decet atque iuvet!“


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