1990: Aufruf zur Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Gemeinde Westernkotten

Von Wolfgang Marcus [in: Aus Kuotten düt un dat 1990, Nr. 26 – 27]

Vorbemerkungen

In den Ausgaben Nr. 21 bis 24 von „Aus Knotten düt un dat…“ wurden Flucht und Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg aus der Sicht eines Vertriebenen, eines heutigen Bad Westernkötters, geschildert. Den nachfolgenden Aufruf des „Flüchtlingsaus­schusses der Gemeinde Westernkotten“ fand ich im Nachlass Probst. Er stammt wohl aus dem Jahre 1946. Er macht anschaulich, wie die Einheimischen, die Westernkötter, dem Flüchtlingsproblem be­gegneten. Er legt zum einen Zeugnis ab vom Ego­ismus und der deutlichen Zurückhaltung, mit der häufig den „anderen Deutschen“, den „Fremden“ begegnet wurde, zeigt aber gleichzeitig etwas von einer christlichen Solidarität, die in dem Fremden, dem Leidgeprüften, den Bruder sieht, der unsere Hilfe notwendig braucht. Ein Appell auch für heu­te, für den Umgang mit Aussiedlern, Umsiedlern, Asylanten…? Ich würde gern noch mehr über diese Zeit erfahren: Wer gehörte zum Flüchtlingsausschuss? Wann und wie wurde er gebildet? Wie ging die Unterbringung der Flüchtlinge u. Vertrie­benen konkret vonstatten?  … Für mündliche und schriftliche Mitteilungen dazu wäre ich dankbar.

Wolfgang Marcus

Der Aufruf

„Als auf Anordnung des Herrn Oberpräsidenten gewählter Ausschuss richten wir an die Einwohner der Gemeinde Westernkotten die herzliche Bitte der Frage der Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als dies bisher geschehen ist.

Die von den Alliierten beschlossene Evakuierung aller Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder und der Lausitzer Neisse (also östlich der Städte‘ Görlitz, Forst, Frankfurt, Stettin, Swinemünde) bedeutet eine Völkerwanderung in einem Ausmaß, wie sie bisher noch nicht da gewesen ist. Vorgesehen ist, dass die britische Zone 2,5 Millionen Deutsche, vorwiegend aus Schlesien und Ostpreußen, aufzunehmen hat. Die Evakuierung soll bis Ende März 1947 restlos durchgeführt sein; zurzeit sind etwa 1/3 der Deutschen aus den Ostgebieten nach den Aufnahmegebieten überführt worden. D.h. der Flüchtlingsstrom ist noch lange nicht zu Ende, sondern die Mehrheit der Flüchtlinge kommt noch erst. Der Reg.-Bezirk Arnsberg soll vorläufig noch 96 000 Flüchtlinge aufnehmen, davon entfallen auf das Amt Erwitte mit seinen 18 Gemeinden 3000 Köpfe. Zu beachten ist, dass diese Zahlen noch nicht endgültig festliegen, sondern dass mit weiterer Erhöhung zu rechnen ist.       

Dieser ununterbrochen fließende Strom von Flücht­lingen stellt an die mit der Aufnahme und Unter­bringung und Verpflegung beauftragten Dienststel­len und Behörden außerordentliche hohe Anforderungen und bedingt Arbeitsleistungen, die kaum noch zu bewältigen sind. Sie werden aber gern und willig geleistet, die von den Flüchtlingen dankbar anerkannt wird. Alle Arbeit von Behör­den und Dienststellen, ebenso die Arbeit von Flüchtlingsausschüssen ist aber nutzlos, wenn nicht auch alle Einwohner der Gemeinde ebenso bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen und angemessen und menschenwürdig unterzubringen. Es ist klar, dass jede Aufnahme von Flüchtlingen durch Abtre­tung von Zimmern und Kochstellen, jede Hergabe von Möbeln, Küchengeräte usw. für den Grund­stücksbesitzer bzw. Wohnungsinhaber eine starke Belastung bedeutet, zumal ja mit jeder Personen­aufnahme auch sonstige Unbequemlichkeiten ver­bunden sind.

Die den Aufnehmenden zuge­muteten Opfer bedeuten aber nichts im Verhältnis zu den Opfern, die jeder einzelne Flüchtling ohne jede Ausnahme hat bringen müssen.      

Die Flüchtlinge haben ihre Häuser und Grundstücke, ihre Wirtschaften mit vollem Viehbestand, ihre Geschäfte und Fabriken, ihre Wohnungen mit voller Ausstattung sowie ihr Barvermögen ver­loren. Keiner hat mehr als geringes Gepäck geret­tet, die meisten haben so gut wie nichts. Fast ausnahmslos fehlt Kleidung, Schuhwerk, Dec­ken usw. und erst recht Haus- und Küchengeräte. Irgendwelche Möbelstücke hat kein einziger mitnehmen können. Sehr viele Flüchtlinge sind während der Zeit der polnischen Besatzung nicht nur einmal, sondern die meisten mehrmals aus ihren Wohnungen herausgesetzt worden. Jeder einzelne ist entwürdigender Behandlung, Miss­handlungen, Beleidigungen ausgesetzt gewesen. Viele waren in Lagern untergebracht und haben schwere gesundheitliche Schäden davongetragen. Die Evakuierung selbst, von dem Heraustreiben aus den Wohnungen angefangen, das Passieren der Kontrollstellen, die mehrtägigen Bahnfahrten zu 30 – 40 Personen in einem Waggon einschließlich Ge­päck, (das Waggondach war sehr oft undicht und ließ Regen in Sturzbächen durch). der Aufent­halt in den verschiedenen Durchgangs- und Vertei­lungslagern, das oftmalige Ein- und Ausladen des Gepäcks (ein Transport hat sein Gepäck insgesamt 26 Mal bewegt), bringt unerhörte Anstrengungen für alle Flüchtlinge, insbesondere für Frauen, Säuglinge- und Kinder, und alte und gebrechliche Leute. Ist es ein Wunder, dass die meisten Flücht­linge erschöpft und übermüdet ankommen, und dass alle ohne Ausnahmen noch unter dem nieder­schmetternden Eindruck des Verlustes ihrer Heimat stehen? Ist es nicht ein Gebot der Menschenpflicht und der christlichen Nächstenliebe, allen diesen bedauernswerten Menschen so schnell und so viel als nur irgend möglich zu helfen?

Es sei mit recht herzlichem Dank anerkannt, dass ein großer Teil der Einwohner in Westernkotten sofort und gern Flüchtlinge aufgenommen hat und diesen alle notwendige Unterstützung zuteil wer­den ließ. Ein Teil hat sich nur widerstrebend be­reit finden hissen, Flüchtlinge aufzunehmen, während ein geringer Teil sich bis heute noch weigert, Flüchtlinge aufzunehmen oder durch zur Verfügungsstellen von vollständig leeren, Räumen, die absichtlich vorher ausgeräumt wurden, seine absolute Interesselosigkeit an dem ganzen Flüchtlingsproblem beweist. Wer es fertig bringt, Flüchtlinge überhaupt nicht aufzunehmen oder ihnen zuzumuten, in einen vollständig leeren Raum einzuziehen, der zeigt damit nur, dass er es auf das Eingreifen der brit. Militär-Regierung an­kommen lassen will. Der Flüchtlingsausschuss weist ausdrücklich darauf hin, dass er von sich aus es unbedingt vermeiden möchte, die brit. Militär-Re­gierung anzurufen; dass jedoch die brit. Militär-Regierung auch durchgreifen kann, zeugen die in ver­schiedenen Orten vorgekommenen Beschlag­nahmungen ganzer Häuser und Wirtschaften, wo­bei also die Besitzer gezwungen wurden, ihre Häuser ganz zu räumen. ­

Der Flüchtlingsausschuss der Gemeinde Western­kotten hofft zuversichtlich, dass Zwangsmaß­nahmen im Interesse der Betreffenden selbst und im Interesse des Ansehens der ganzen Gemeinde vermieden werden können. Jeder muss sich da­rüber klar sein, dass die Lasten des verlorenen Krieges von allen Deutschen ohne jede Ausnahme gemeinsam getragen werden müssen. Es geht nicht an, dass die Ostflüchtlinge alles, aber auch alles, selbst ihre Heimat verlieren und andere sich von den geringsten Opfern drücken wollen. Außer­dem muss sich jeder Deutsche darüber klar sein, dass ja noch keiner weiß, welches Los ihn morgen selbst trifft. Auch der, der heute noch in seinem Wohl erhaltenen Besitz sich sicher glaubt, weiß noch nicht, ob er nicht eines Tages selbst hilfsbe­dürftig wird:

Es muss ferner berücksichtigt werden, dass die Ost­gebiete in den Kriegsjahren selbst Aufnahmege­biete für Millionen von Flüchtlingen aus West und Mitteldeutschland waren, dass darüber hinaus aber noch eine Riesenzahl von verlagerten Rü­stungsbetrieben mit deren Betriebsangehörigen auf­genommen werden mussten. Jeder weiß, dass es in der Kriegszeit unter der Hitlerregierung keine Weigerung gab, und dass keine Rücksicht auf die Belange der Einheimischen genommen wurde. Ortsbelegungen von 200 bis 300 % der Einwohner­zahl sind sehr häufig vorgekommen. Auch in Westernkotten befinden sich Flüchtlinge aus Orten, die bei einer Einwohnerzahl von wenig mehr als 500 fast 2000 Flüchtlinge aufgenommen hatten. Die Stadt Habelschwerdt z.B. hatte vor dem Krieg noch nicht 7000 Einwohner und am Schluss des Krieges fast 30.000 Einwohner. Die Stadt Breslau hatte vor dem Krieg 640.000 Einwohner und im letzten Kriegsjahr eine Verpflegungsstärke von über 1,5 Millionen. Es sind Fälle nachweisbar, wo in einem größeren Bauernhaus mit 12 Räumen, 10 Zimmer beschlagnahmt waren. Es ist ein Flüchtling ­in Westernkotten, der auf seiner Wirtschaft von 26 Morgen 22 Flüchtlinge aufgenommen hatte. Es sind alte, einst wohlhabende Flüchtlingsfrauen in Westernkotten, die in ihrem großen Gutshaus über ihre vorgeschriebene Belegung hinaus noch frei­willige verwundete Soldaten aufgenommen und verpflegt haben.

Es kann kein Zweifel sein, dass an diesen Zahlen gemessen, Westernkotten noch lange nicht als überbelegt angesprochen werden kann. Western­kötter! Es muss geschafft werden, dass alle Flücht­linge angemessen und menschenwürdig unterge­bracht, versorgt und verpflegt werden. Der Winter steht vor der Tür! Ein Ort, der so geringe Kriegsschäden zu verzeichnen hat, wie Westernkotten, hat zweifellos die Pflicht, wenigstens in dieser Hinsicht besondere Opfer zubringen.

Der Flüchtlingsausschuss der Gemeinde Western­kotten.