1989: Als Heimatvertriebener nach Westernkotten

von Josef Zimmer

[aus: Aus Kuotten düt un at, 1989, Nr. 21-24; erneuter Abdruck: Jahrbuch Bad Westernkotten 2016, S. 72-79]

Auch Westernkotten musste gegen Ende und nach dem 2. Weltkrieg zahlreiche Evakuierte, aber noch mehr Flüchtlinge und Vertriebene „aus dem Osten“ aufnehmen. So waren von den 1920 Men­schen, die am 1. 10. 1952 in Westernkotten wohn­ten. 408 Flüchtlinge und Vertriebene und 123 West­evakuierte. Was sind das für Menschen, von de­nen wir Jüngeren oft nicht mehr wissen. als dass sie „aus dem Osten“ gekommen sind? Wo liegt Ihre Heimat? Wie haben sie dort gelebt? Wie kam es, dass sie den langen Weg nach Westen antreten mussten? Welche Erfahrungen haben sie dann hier gemacht, in unserem Ort und anders­wo? Und welche Bindungen gibt es noch an die „alte“ Heimat?

Im folgenden Beitrag werden die Erfahrungen eines heutigen Westernkötters wiedergegeben, der bei Kriegsende 10 Jahre alt war. Ich habe den Beitrag  in der Ich-Form erstellt, um auch so deutlich zu machen, dass es ganz persönliche Er­fahrungen sind, die hier ihren Niederschlag finden. Geschichte – so denke ich – spiegelt sich aber immer auch in Geschichten wider, in den Le­benserfahrungen einzelner. Und wer sich für die jüngere Geschichte unseres Ortes und unserer Heimat interessiert, sollte das nicht tun, ohne Lei­den und Leistung der hier ansässig gewordenen Flüchtlinge und Vertriebenen genauer in den Blick zu nehmen.                W. Marcus

Ich bin im September 1935 in Voigtsdorf geboren, 1 1/2 Jahre nach meiner Schwester. Voigtsdorf ist ein kleiner Mittelgebirgsort ca. 7 Kilometer westlich von Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz. Die Grafschaft Glatz gehörte zu Nieder­schlesien und erstreckte sich über die Städte Glatz, Habelschwerdt und Neurode sowie deren Umge­bung. Sie springt wie ein Erker aus der Sudeten­mauer in das Gebiet der Tschechoslowakei hinein.

Mein Heimatdorf Voigtsdorf hatte damals etwa 400 Einwohner, genau kann ich das aber nicht mehr sagen. Es ist ein Bergdorf, vielleicht 500 Me­ter hoch gelegen. Eine einzige Dorfstraße schlän­gelt sich durch das Unter-, Mittel- und Oberdorf den Berg hinauf. Ich kann mich noch gut erin­nern, dass wir im Winter mit unseren Schlitten die ganze Dorfstraße vom obersten Punkt durch das Dorf heruntergerodelt sind. Und es war mancher steile Hang dabei, an dem man schon gut auf­passen musste. Das letzte Anwesen lag so hoch, dass sie dort zumeist schon keine vernünftigen Äpfel mehr ernten konnten.

Unser Hof lag im Mitteldorf links von der Straße. Meine Eltern bewirtschafteten etwa 50 Morgen Land. Die flacheren Stücke wurden bebaut, die steileren dienten als Viehweide. Im Winter, wenn die Arbeit auf dem Feld ruhte, fuhr mein Vater auf Lohnbasis Holzfuhren mit seinem Fuhrwerk. Wie wir betrieben fast alle in Voigtsdorf Landwirt­schaft, daneben etwas Forstwirtschaft. Im Sommer gab es ein klein wenig Fremdenverkehr, aber nur in Ansätzen.

An Autos kann ich mich in unserem Ort bis zu un­serem Weggang 1945 nicht erinnern, einzig der Bäcker, der Brote herumbrachte, hatte zeitweilig mal eins. Die Älteren hatten zumeist ein Fahrrad, das aber weniger im Dorf als auf der weitgehend ebenen Strecke nach Habelschwerdt zum Einsatz kam. Hauptverkehrsmittel in unserem Ort waren die Füße, und bei der buckeligen Landschaft war das eigentlich auch das Günstigste.

Das bedingte natürlich, dass man eigentlich nicht sehr viel von der Welt kannte. Meine weiteste Tour war eine Wallfahrt mit den Messdienern nach Maria Schnee, da sind wir sogar ein Stück mit dem Zug gefahren. Ja, bei den Messdienern habe ich fleißig mitgemacht. Vor allem erinnere ich mich daran, dass wir für die große Kirchen­orgel den Blasebalg betätigen mussten. Unser Ort war rein katholisch, ich kann mich zumindest nicht an evangelische Christen erinnern.

Schon während meiner Schulzeit – ich habe in Voigtsdorf die zweiklassige Volksschule besucht. Bis zum 3. Schuljahr, dann kamen die Wirren des Kriegsendes – musste ich viel helfen, und auch ge­betet wurde viel, besonders in den Kriegsjahren. Ich erinnere mich, dass ich einmal nach der Feld­arbeit Brot geholt hatte und nachher noch die Abendandacht besuchen musste. Vor lauter Müdigkeit schlief ich ein, und als ich endlich wie­der richtig wach war, war die Kirche dunkel, die Tür verschlossen. Ich hatte Angst, mich irgendwie bemerkbar zu machen, denn vielleicht war es schon Sperrstunde, und das hätte nur Ärger gege­ben. Ich habe geheult, aber verhungern würde ich auch nicht. so tröstete ich mich, ich hatte ja das Brot. Dann, ich weiß nicht wann, hörte ich Schritte, die Tür knarrte: Meine Eltern, die sich Sorgen ge­macht hatten. kamen mit dem Pastor, und alles war gut.

Große Reichtümer konnten bei den Bodenverhält­nissen nicht angehäuft werden. Ein Jahr Weihnachten bekam ich ein Paar ganz neue Skier. die habe ich vor Freude und aus Angst, sie nicht be­halten. zu dürfen, sogar mit ins Bett genommen.

Vielleicht muss ich noch sagen, dass in unserem Haus noch 4 weitere kleine Wohnungen vermietet waren, je eine Küche mit einem Schlafzimmer. Ich erinnere mich gut an einen alten Schuster, der dort auch wohnte.       

Mit der Bombardierung Breslaus bekamen wir die Kriegseinwirkungen dann deutlicher zu spüren: Verwandte aus dem Breslauer Raum quartierten sich aus Sicherheitsgründen bei uns ein, so dass wir vorübergehend 24 Personen im Haushalt waren.

Im Dorf selbst waren im Laufe der Zeit einige man kann im Nachhinein nur sagen „lächerliche'“ Panzersperren aufgebaut, einige Gräben und Lö­cher ausgehoben. Oben im Dorf lagen einige Gebirgsjäger, ich weiß zumindest noch, dass sie Skier in ihrer Ausrüstung hatten. Sie haben aber beim Vordringen der Front auf unseren Ort nicht mehr zur Verteidigung des Dorfes aufgerufen.

Kurz vor Ostern kam dann mein Vater im Rah­men des Volkssturms bis in die Tschechoslowakei: Die älteren Männer sollten die Russen dort auf­halten. Mein Vater hat dann öfter erzählt: Als die russische übermacht immer näher rückte, setzten sich viele Volkssturmoffiziere der Einheit ab, so dass die Zahl der Verteidiger immer mehr schrumpfte. Zum Schluss ist mein Vater dann mit zwei anderen Bauern aus unserer Gegend auch geflohen. Acht Tage sind sie zu Fuß durchs Ge­birge und querfeldein nach Hause unterwegs ge­wesen.

Ostersonntag 1945, es war der 1. April, konnten wir dann vom Nachbarort hinter einer Bergkuppe die Russen sehen: Eine Unmenge von erdfarbe­nen Soldaten und Fahrzeugen ergoss sich durch das Tal, so weit man sehen konnte. Sie zogen, glaube ich, in die Tschechoslowakei.

Wohl am Dienstag nach Ostern kamen die Russen dann auch in unser Dorf. In unsere Wohnung wurde eine Familie mit 6 Personen gesetzt, und das ist fast wörtlich zu sehen: Sie saßen fast durchweg in unserer Küche, zwei Tage lang, wurden von uns verpflegt. ohne dass eine vernünftige Ver­ständigung möglich war. Als mein Vater dann vom Volkssturm wiederkam, völlig übermüdet, fand er nicht einmal richtig Platz in unserem Haus. Er verbrachte die erste Nacht in einer win­zigen Dachkammer.           .

So wie bei uns wurden auch in die anderen Häu­ser und Wohnungen des Dorfes Polen einquar­tiert, die Zentralverwaltung oblag aber weiterhin den Russen. Sämtliche Mieter in unserem Haus mussten dann umgehend unser Haus verlassen, auch der alte Schuster.

Alle Bewohner unseres Dorfes waren bis zu die­sem Zeitpunkt geblieben, nur einmal – wohl im Zusammenhang mit der Bombardierung Breslaus – hatten einige ihre Fuhrwerke zur Flucht vorbe­reitet, ihr Vorhaben dann aber nicht ausgeführt. Alle glaubten und hofften, auch unter den .neuen Herren irgendwie durchzukommen.             

Schon bald stellte sich aber heraus. dass wir nicht einmal mehr Herren in unserem eigenen Haus waren: 2 junge Pferde wurden uns von russischen Soldaten aus dem Stall genommen, 2 müde Klep­per stattdessen zurückgelassen. Bei Kriegsende hatten wir noch zwei Schweine. Das eine haben sie uns bei Nacht und Nebel im Stall geschlachtet und geklaut; bei unserem Abtransport mit dem Zug hat der polnische Bürgermeister dann meinem Vater bestätigt, dass er selbst es geneh­migt habe. Das zweite Schwein wurde uns am helllichten Tage genommen: Ich kam mit meinem Vater aus Habelschwerdt, als uns zwei Russen aus dem Dorf entgegenkamen, mit einem Schwein. Ich erkannte es als das unsere, aber wir haben den Mund gehalten. Zu Hause trafen wir die Mutter mit einigen blauen Flecken: Sie hatte das Schwein nicht hergeben wollen.               

Insgesamt hatten wir aber, was die Behandlung durch Polen und Russen anging, noch Glück, wohl auch deshalb, weil mein Vater einen polnischen Kriegsgefangenen früher etwas unterstützt hatte. Es ist aber, etwa bei unserem Nachbarn, auch zu Verprügelungen gekommen: Nicht alle neuen Sieger gebärdeten sich menschlich.

Wir bekamen dann in unsere Wohnung eine pol­nische Witwe mit ihren zwei etwa 20jährigen Töchtern. Sie kamen aus der Stadt und hatten von Landwirtschaft wenig Ahnung. So waren sie auf uns angewiesen und behandelten uns ent­sprechend.

Es hieß zunächst, die Polen sollten nur vorüberge­hend bleiben, und genau so benahmen sich viele auch: Alles. was nicht niet- und nagelfest war, wurde oft demontiert, vieles verbrannt; und ange­legt an den Häusern wurde ebenfalls nichts.

Im Frühjahr 1946 wussten wir dann, dass alle Dorf­bewohner ihre Heimat verlassen mussten. Als mein Vater hörte, dass dies in drei Gruppen ge­schehen sollte, entschied er sich dafür, sofort in den sauren Apfel zu beißen. Da jeder nur soviel mitnehmen durfte, wie er tragen konnte, hat meine Mutter für uns vier je einen Rucksack ge­näht, und aus Bettlaken wurden feste Pakete ge­schnürt. Lebensmittel, die meine Mutter vor Plün­derungen im Kachelofen versteckt hatte, und Wä­sche, einige Wertsachen, das war alles, was ver­staut werden konnte. An Geld durfte, so glaube ich, pro Person nur 200 Mark mitgenommen werden.

An einem Sonntag Mitte März 1946 war es dann soweit: Alle, die für den Transport vorgesehen waren, mussten ihr Handgepäck aus den Häusern in den Gasthof unten im Dorf schaffen. Die Dorf­zufahrt wurde dann gesperrt, die Leute durften nicht zurück und mussten im Gasthaus schlafen. Wir hatten Glück. es war zu voll, und so konnten wir die letzte Nacht daheim verbringen.

Am Montagmorgen ging es mit Fuhrwerken los, wir mitten drin in einem Treck von vielleicht 20 Wagen. Es hieß, es geht nach Westen. Zu Pfarrer Leister, der uns mit Gottes Segen und guten Wün­schen verabschiedete, hatten wir später noch viele Jahre Kontakt. Mit den Fuhrwerken erreichten wir am Nachmittag Mittelwalde. Hier mussten wir un­sere Sachen abladen, das Fuhrwerk abgeben und an einer Kontrollstelle vorbei in ein Holzba­rackenlager. Bei den Kontrollen wurde noch vielen manches wertvolle Stück abgenommen.

Das am Bahnhof gelegene Barackenlager machte vor allem in hygienischer Hinsicht einen völlig heruntergekommenen Eindruck. Mir sind noch gut völlig verdreckte, 5 – 6 Meter lange Donnerbalken in Erinnerung. Wir blieben hier 2 Nächte, dann eine weitere in einem Güterschuppen. Es war eisig kalt, viel kleine Kinder und Säuglinge schrieen und wimmerten. Hier waren alle gleich, kleine Leute und Bessergestellte, wie unser Kreis­tierarzt, den wir unter den Menschenansamm­lungen entdeckten. Aus den unterschiedlichsten Ortschaften waren die Menschen hier zusammen­ gebracht worden.  

Am nächsten Tag wurde ein Flüchtlingszug zu­sammengestellt: Genau 32 Personen wurden einem Güterwaggon zugewiesen einschließlich des entsprechenden Handgepäcks. Im Zug richteten es sich alle so gut es ging ein. Wohin es ging? – Keiner wusste Genaues. Nach dem We­sten, hieß es, und dabei schwang die Hoffnung mit, dann doch möglichst weit in den Westen zu kommen, um nicht unter russische Verwaltung zu geraten.

Woher wir fuhren, ich weiß es nicht mehr. Oft aber gab es Unterbrechungen, Bahngleise waren zerstört, Brücken unpassierbar. Nachts passierten wir mit äußerster Vorsicht eine halbzerbombte Brücke über die Oder. Mit der Zeit stellten sich die Waggoninsassen besser auf die neue Situation ein. Bald brannte in jedem Waggon ein alter Ka­nonenofen. der an Haltestellen irgendwo „organisiert“ worden war; überhaupt schwärmten die Menschen, wenn einer der zahlreichen längeren Aufenthalte angezeigt war, in alle Richtungen vom Bahnhof aus und besorgten, was sie für nö­tig erachteten, oft so organisiert, dass der eine für Kohlen oder Holz, der andere für Wasser, wieder andere für Lebensmittel zuständig waren. Dabei kam es dann auch sogar vor, dass einige nicht rechtzeitig zurück waren und sie so von ihren im Zug wartenden Familien getrennt wurden. Als. die Tage wärmer wurden, hatten wir oft die Schiebe­tür unseres Waggons geöffnet und ließen die Bei­ne nach draußen baumeln. Einmal unterwegs fiel aus dem Waggon vor uns ein Junge hinaus; zum Glück kam er draußen schnell wieder auf die Bei­ne und konnte von den Insassen des Waggons hinter uns wieder hineingezerrt werden.

So erreichten wir nach vielen Tagen Gießen. Hier mussten alle aussteigen, Entlausung hieß es! Wie ich später hörte, bekamen es da etliche Ältere mit der Angst zu tun: Die Gaskammern der Nazis waren ihnen nicht unbekannt geblieben! – Es war aber völlig harmlos: In einem großen Saal wurde über alle ein weißes Entlausungspuder ge­stäubt.

Dann kamen wir, in einem großen Chaos, in dem viele größere Gruppen getrennt wurden, in Per­sonenzüge, die uns bis nach Rüthen brachten. Hier musste ein Teil der Zuginsassen aussteigen, wir auch. Da standen wir nun mit unseren Habse­ligkeiten, hunderte von Kilometern von unserer Heimat getrennt in der Fremde. Wir wurden hinauf nach Rüthen in die Stadt beordert. Aber dann hieß es „Umkehren, hier können wir nicht bleiben“, Also ging’s wieder zurück zum Bahnhof und von da mit dem Zug nach Erwitte. Hier wur­den wir auf Lkws verladen und nach Western­kotten transportiert. Der Fahrer war wohl Herr Kemper-Duirik. Der Lkw, übrigens mit Holzverga­ser, transportierte uns zunächst ohne unser Ge­päck, das mit einigen jüngeren Burschen zurück­blieb und dann mit der 2. Fuhre mitkam. Wir wurden zum Gasthof Reinhold/Deimel, auf dem Schäferkamp, gebracht. Es war am Spätnachmittag des 1. April 1946, als wir dort an­kamen.

Zunächst standen wir eine ganze Welle vor der Tür und mussten warten. Dann kamen Einheimi­sche mit einem Fuder Stroh, das im Saal der Gast­wirtschaft ausgebreitet wurde. Dann haben sich alle für die Nacht eingerichtet, etwa 30 Personen waren wir, so schätze ich.

In den folgenden Tagen wurden wir von einer im Gasthof Dietz untergebrachten Gemeinschafts­küche aus versorgt. Wir erfuhren, dass dort und im Saal des Gasthauses Kemper weitere Vertrie­bene untergebracht waren. Auch war das Dorf noch voll von Westevakuierten.

Bereits in den ersten Tagen habe ich das Dorf, das ja nun unsere neue Heimat werden sollte, ge­nauer erkundet. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mit Kindern an der Bieke, dem Osterbach, Kontakt bekam, die dort mit Booten aus abgewor­fenen Benzintanks der Amerikaner spielten. Über­haupt bekam ich mit Kindern aus Westernkotten recht schnell guten Kontakt, obwohl ich mich auch an Sticheleien und Schimpfwörter wie „Rübenkratzer“, „Boidedeutsche“ und „alte Pollacken“ er­innern kann.

Meine Eltern versuchten inzwischen, durch Arbeit, vor allem bei den Bauern, etwas zu unserm Le­bensunterhalt beizutragen sowie geeigneten Wohnraum für uns zu finden. Im Ort war wohl ein Flüchtlingskomitee gebildet worden, das alle Wohnhäuser aufsuchte und die Leute aufzufor­dern hatte, zusammenzurücken und Zimmer für uns Vertriebene zur Verfügung zu stellen.

Nach und nach leerte sich unser Saal bei Rein­holds, und nach etwa 14 Tagen fanden wir in einem Fachwerkhaus auch eine aus zwei Zim­mern bestehende Bleibe für unsere Familie. Mei­ne Eltern arbeiteten beide bei Bauern, und auch wir Kinder versuchten, zum Lebensunterhalt beizu­tragen.

Nach etwa 6 – 8 Wochen bekam mein Vater das Angebot, mit seiner Familie auf einem Bauernhof wohnen zu können. Bedingung war, dass er auf der Ziegelei Timmermann in Lippstadt arbeite, da­mit der Bauer so – und das war nur möglich, wenn man eine Arbeitskraft stellte – an Steine für einen Neubau kam. So zogen wir um.

Meine Schwester hatte inzwischen auf einem anderen Bauernhof eine freundliche Aufnahme er­fahren, so dass sie sogar 1949 ganz dorthin zog.

Auch unsere neue Unterkunft bestand aus 2 Zim­mern. Meine Mutter half fortan im Kuhstall und bei der Feldarbeit, und ich kam noch 1946 in die Schule. Da im letzten Kriegsjahr bei uns in Voigts­dorf der Unterricht fast immer ausgefallen war, wiederholte ich zunächst die dritte Klasse und machte 1951 meinen Schulabschluss. Etwa vom 6., 7. Schuljahr an habe ich dann morgens vor dem Unterricht Stallarbeiten gemacht, und nachmittags stand oft leichtere Feldarbeit auf dem Programm. Beim Einschlafen wurden dann die Schulaufga­ben erledigt.

Nach der Schulzeit habe ich lange eine Lehrstelle gesucht. Es war bestimmt so schwierig wie jetzt heute in den letzten Jahren. Etliche kamen auf der Union unter, aber zumeist nur mit Beziehun­gen. Endlich klappte es doch. Als Schreinerlehrling wohnte ich die meiste Zeit in einem Zimmer über dem Sägewerk – Mäuse und Mücken waren keine Seltenheit – wurde morgens um sechs ge­weckt, bekam dann nach Stallarbeiten um sieben ein Frühstück, Graubrot mit Rübenkraut, dann ging die Arbeitszeit von halb acht bis 12 und von eins bis abends sieben. 10 DM war der Monats­lohn, bei voller Kost und Logis.

Vor allem über die Messdiener, aber auch über den uns freundlich aufnehmenden Pastor Becker war ich immer mehr in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen hineingekommen. Ich erinnere mich noch gut an den Religionsunterricht von Pfarrer Becker, der weiterhin in seinem Pfarrhaus statt­fand, unten im Keller.

Mein Vater hatte inzwischen verschiedene Arbeits­plätze gefunden, so im Steinbruch eines Zement­werkes und beim Erwitter Fuhrunternehmer Adam Schmidt. Später hat er dann noch umgeschult und Maurer gelernt und vor allem als Bauhandwerker sein Geld verdient.

Inzwischen hatte die Gemeinde Westernkotten Baugelände für Flüchtlinge und Vertriebene zur Verfügung gestellt, und zwar für solche, die im Osten einen bäuerlichen Betrieb nachweisen konnten. In dieser so genannten „Bauernsiedlung“, in der jetzigen Eichendorffstraße und an der Süd­seite der Hedwigstraße, wurden mit staatlicher Unterstützung mehrere sog. „bäuerliche Nebener­werbsstellen“, Häuser mit kleineren Stallungen, errichtet. 1954 waren diese im gleichen Grundriss gebauten Häuser fertig. Kurz vor der Fertigstel­lung wurden die Häuser vergeben, danach konn­ten noch in bescheidenem Maße Wünsche zur letztendlichen Bauausführung usw. angebracht werden.

Auch wir bekamen so ein Haus, auf der Basis eines zinslosen Darlehns, das wir in einigen Jahr­zehnten abzutragen hatten und auf das der so genannte Lastenausgleich angerechnet wurde.

Das waren schon harte Jahre danach, aber mit dem Gehalt meines Vaters, meinem nach der Lehre 240 DM betragenden Verdienst und den Einkünften meiner Mutter, die noch bis weit in die 1960er Jahre zu den Bauern zum Helfen ging, ha­ben wir dann doch den Durchbruch geschafft.

Über die Vereine, besonders Schützenverein und Feuerwehr, kam man immer besser in die Dorfgemeinschaft hinein und wurde, ja man kann es wirklich so sagen, heimisch. Heute möchte ich mein neues Zuhause nicht mehr missen, und ich glaube, ich würde auch nicht mehr gegen unser Leben und Wohnen drüben tauschen.

1987, also nach mehr als 41 Jahren, habe ich dann zum ersten Mal meine erste Heimat wieder gesehen. Josef Regenbrecht. dessen Frau auch aus Voigtsdorf ist, hatte eine Fahrt in die Graf­schaft Glatz für alle im heimischen Raum ansässig gewordenen Voigtsdorfer organisiert; mit Ehepart­nern waren wir 29 Fahrtteilnehmer.

Es war schon unvergesslich, wie alle im Bus auf­standen, als wir in die Nähe Voigtsdorfs kamen, als wir dann zu unseren ehemaligen Besitzungen gingen, von denen im oberen Teil des Dorfes schon etwa zwei Drittel nicht mehr bestanden, als wir Kontakt mit den jetzigen polnischen Besitzern suchten und an jeder Ecke und in jedem Winkel neue Erinnerungen wach wurden. Immer werde ich daran zurückdenken, wie wir nach längerem Suchen im Wald oberhalb unseres Dorfes die Ruinen der uns allen so vertraut gewesenen Schneider-Kapelle entdeckten und hier Marien­lieder gesungen, gebetet, geweint und geschwie­gen haben.

Überhaupt ist durch diese Fahrt die Gemeinschaft der ehemaligen Dorfnachbarn sehr vertieft worden. Auf der Rückfahrt waren wir uns aber eigentlich alle einig: „Mir woarn jetz daheeme, aber jetzt fahren wir nach Hause“.

Zusammengestellt nach Gesprächsnotizen vom 1.und 3. März 1988.     Wolfgang Marcus