1984: Mues, Willi (Erwitte): Eisenbahnverkehr in Erwitte – Westfälische Landeseisenbahn fährt seit 1883

Erstabdruck: Mues, Willi, Eisenbahnverkehr in Erwitte. WLE fährt seit 1883; in: Heimatblätter 64, S. 57-59


Die Eröffnung der Eisenbahnstrecke Lippstadt-Warstein im Jahre 1883 war auch für den Raum Erwitte-Anröchte ein besonderes Ereignis. Die Verkehrsverbindungen zur damaligen Kreisstadt Lippstadt und zur weiteren Umgebung wurden dadurch wesentlich verbessert. Auch die Dörfer der damaligen Ämter Erwitte und Anröchte profitierten von der nun einsetzenden Entwicklung. Zwar hatten die örtlichen Zeitungen den „Bahnbau” ob des langsamen Voranschreitens mehrmals ironisch kritisiert, endlich war es dann doch soweit. Für rund 1,2 Millionen Mark hatte man in 19monatiger Bauzeit ein 30,88 km langes Streckennetz geschaffen.
Als am 1. November 1883 der erste feierlich geschmückte Zug von Lippstadt nach Warstein fuhr, bekamen die Erwitter Kinder schulfrei und standen Fähnchen schwenkend zusammen mit vielen anderen Schaulustigen an der Hellwegkreuzung und winkten dem neuen Gefährt begeistert zu. Ähnlich war es wohl auch in Anröchte und in allen anderen Orten, durch die der Zug fuhr.
Gleichzeitig mit dieser schnelleren und bequemeren Reisemöglichkeit kam aber auch ein anderes jahrhundertealtes Gefährt aus der Mode: die Postkutsche. Erwitte war bereits seit dem Jahre 1688 Sitz einer Thurn- und Taxischen Posthalter mit Pferdewechselstation und Briefaustauschstelle und damit die erste Poststelle im damaligen Herzogtum Westfalen. Über die letzte Postkutsche in Erwitte berichtet recht anschaulich ein Bericht im „Patriot“ vom 1. November 1883:
„Erwitte (Kr. Lippstadt), 1. Nov. Mit dem heutigen Tage gehört auch unser Ort zu denjenigen, in welchen Postfahrten wohl für ewige Zeiten eingestellt sind; gestern Abend fuhr die letzte Post von hier nach Belecke. Es hatte sich deshalb zur Zeit der Abfahrt eine ziemliche Menschenmenge am Posthause versammelt, um diesem Schauspiel zuzusehen. — Ein lustiger Schwager, der sich gewiss in Ansehung seines wichtigen Amtes schon ziemlich „gestärkt” hatte, stieß noch einmal die uralten, aber ewig neuen Töne aus und wurde dann von hundert Händen auf den Bock getragen. Allein dieser schien ihm an diesem Tage zu niedrig und zu eng; er stieg höher hinauf bis oben auf die „Wäsche”, von wo er alsbald unter brausenden Zurufen das alte, wohlbekannte Postillons-Lied anstimmte: „Schier dreißig Jahre bist du alt“. Begeistert fiel die umstehende Menge mit ein, und das Singen wollte kein Ende nehmen. Als das Lied endlich beendigt, brachte der erste Unterbeamte des Postamtes, Joseph Mues, selbst ein früherer Postillöner, der scheidenden Post ein weithin dröhnendes dreimaliges Hoch aus, und fort fuhr sie, die Post, auf Nimmerwiedersehen. Bald hörte man nur noch in der Ferne einsame Posthornklänge und den Hufschlag der Pferde. Unterdessen erzählte ein Mann in Silberhaaren, ein Achtziger, der es sich als alter pensionierter Postillon nicht hatte versagen können, der letzten scheidenden Post seinen Gruß zu überbringen, mit rührender Stimme von alten, längst vergangenen, aber flotten und lustigen Tagen, wo unsere Posthalterei ihre 40—50 Pferde zählte, und Erwitter Posten bis nach Dortmund, Hamm, Münster, Bielefeld, Paderborn und über Meschede hinausfuhren, Tage, die er alle noch miterlebt hatte.
-Noch einen anderen Mann mit schneeweißen Locken bemerkten wir in der Zuschauermenge; stumm stand er da und streichelte mit überlegender Miene seinen Bart. Es war der „olle Victor“, ein Siebenziger, aber noch rüstig wie ein Jüngling. Er ist ein Hauderer von echtem Schrot und Korn und fährt seit 35 Jahren zwischen hier und Lippstadt. Vom 12. Lebensjahre an die Zügel nicht aus der Hand gelassen, oder wie er selbst sagt, „mehr Butterbrode auf dem Bocke verzehrt, als der olle Fritze und Napoleon Kanonenkugeln verschossen“, hat er fast ganz Deutschland befahren und erfreute deshalb alle, welche mit ihm fuhren, durch seine wunderbare Ortskenntnis verbunden mit einem hübschen Erzählertalent, das sich in täglich neuen Geschichtchens und drolligen Reiseabenteuern, welche er zum Besten gab, kundtat, so dass man bei ihm über Langeweile niemals zu klagen hatte, wenn er auch selbst als Mitglied des Thierschutzvereins seine Pferde selten übermäßig anstrengte. Jetzt steckt auch er, gleichwie die Post, mit der er so manchen Strauß glücklich gefochten, das Fuhrwesen auf und will ausruhen auf seinen Lorbeeren. Wünschen wir ihm noch recht fröhliche und vergnügte Tage.“
Bereits im Gründungsjahr der WLE hatte Erwitte einen eigenen Bahnhof. Es war zwar kein großes steinernes Gebäude, sondern ein einfaches Holzhaus nach den Vorschriften des damaligen Bahnbaus. Der erste Bahnhof stand an der Stelle des heutigen Kornhauses und wurde später abgebrochen, als der jetzige Bahnhof im Jahre 1908 eingeweiht und in Betrieb genommen wurde. Neben einem regen Personenverkehr setzte auch bald ein immer stärker werdender Waren- und Stückgutverkehr ein wie auch Viehtransporte aller Art. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war der Bahnhof Erwitte Verladestation für Pferde aus dem gesamten Kreisgebiet. Bis zum Söbberinghoff und auf dem Hellweg bis zum Gehöft Husemann standen die Pferde, die zur Ablieferung an das Heer bestimmt waren. Gleichzeitig stiegen hier auch viele Reservisten als Begleitpersonal zu.
Eine Statistik im Erwitter Heimatbuch belegt eindeutig die stetige Aufwärtsentwicklung des Erwitter Bahnhofs, insbesondere nach der Gründung der Zementwerke in den Jahren 1927 – 1930.


In den Jahren der beiden Weltkriege sah der Bahnhof in Erwitte auch manch stille, schwere Abschiedsszene. Viele der jüngeren Männer aus Erwitte und Umgebung, die von hier zu den Fronten des Krieges fuhren, sind nie mehr in die Heimat zurückgekehrt. In den Nachkriegsjahren kamen dann auch die Hamsterfahrer in großen Scharen mit „der Bahn“ aufs Land, um irgendetwas zu erhamstern oder zu tauschen. Ganze Generationen von Schülern aus dem Großraum Erwitte-Anröchte und von „der Haar” sind mit „der Bahn“ nach Lippstadt zu den weiterführenden Schulen gefahren und mittags zurück. Die Frühzüge brachten Scharen von Arbeitskräften aus diesem Gebiet zur „Metall“ oder zum „neuen Werk“ oder zu einer sonstigen Arbeitsstelle in Lippstadt. Nicht zu vergessen die große Zahl der Einkäufer in Lippstadt. Und wer erinnert sich nicht der Schulausflüge mit „der Bahn“ ins Sauerland — und wenn es manchmal nur bis in den Mellricher Wald ging? – Nicht zu vergessen die Sonntagssonderzüge im Winter, wenn in Brilon und Willingen der Schnee genügend hoch lag. Sehnsüchtig warteten in früheren Jahrzehnten die auf den Feldern arbeitenden Menschen auf den „Sieben-Uhr-Zug“ von Lippstadt, denn er kündigte den draußen Arbeitenden durch sein Pfeifen an, dass nun bald Feierabend war.


Erwitte war mit der Hellwegkreuzung und der parallel die Bahnlinie gleitenden B 55, die früher zwischen Erwitte und Anröchte zweimal von der Bahnlinie gekreuzt wurde, ein besonders gefährliches Streckenstück. Es kam hier in der Vergangenheit öfter zu schweren Unfällen, und erst im Jahre 1966 wurde der Hauptschienenweg auf die Westseite der B 55 verlegt. Auch wurden die Hauptübergänge durch entsprechende Ampelanlagen gesichert.
Im Zweiten Weltkrieg kam es einmal zu einem besonderen Unfall. Ein nach Soest einbiegender Lastzug wurde von der Lok erfasst und erheblich beschädigt, dabei wurde die Ladung, leeren Faltschachteln für die verschiedensten Sorten von Dr.-Oetker-Puddingpulver, weit verstreut. Für die Erwitter Kinder waren diese leeren Schachteln noch lange Zeit begehrte Spiel- und Tauschobjekte. – Und als in den ersten Nachkriegsjahren eine ganze Lkw-Ladung mit Marmeladen-Eimern aus Seesen/Harz von der Lokomotive des Frühzuges zerquetscht wurde, saßen tagelang viele Familien aus Erwitte an der Hellwegkreuzung und versuchten von den zerstörten Lkw-Brakken und Marmeladeneimern ab- und auszukratzen, was an Marmelade nur zu bekommen war — und dies trotz oder mit Polizeiaufsicht. Und nicht wenige Zementlastzüge sind noch von den Puffern einer WLE-Lok erfasst worden, als die Kreuzung noch nicht ausgebaut war.


Im Zuge des großen Ausbaus der Kreuzung in den Jahren 1960/61 wurde der gesamte Schienenstrang 12 Meter weiter westlich gelegt. Der gesamte Kreuzungsbereich wurde durch eine Großampelanlage gesichert. Die 60er Jahre brachten der Bahn gleichzeitig einen starken Rückgang im Personenverkehr; eine Folge der fortschreitenden Motorisierung. Gleichzeitig kam Anfang der 70er Jahre-auch das endgültige Aus für die letzten Dampfloks. Auch Triebwagen und moderne stärkere Dieselloks konnten der WLE nicht die Fahrgäste zurückbringen, die man gebraucht hätte. Auch der Stückgutverkehr zum Erwitter Bahnhof wurde vor sieben Jahren aus Rationalisierungsgründen aufgegeben. Dafür wurde der Schwerlastverkehr durch moderne Dieselloks vor speziellen Steintransportzügen und anderen Spezialwagen stärker. Nicht mehr das Läuten und Pfeifen der guten alten Dampfloks weckt nun morgens die Bürger, sondern das helle Hupsignal der schweren Dieselloks der Steinzüge.
Schlagzeilen macht die WLE in den letzten Jahren auch immer, wenn es um entsprechende Zuschüsse der Gemeinden zur Aufrechterhaltung dieses Verkehrsbetriebes geht. Trotzdem „können wir schon auf die Schiene nicht verzichten“, war schon öfter von den zuständigen Kommunalpolitikern zu hören. Ob es wohl so bleibt — und ob in den nächsten 100 Jahren wohl noch weiterhin „Züge“ von der Lippe zur Haar hinauf „dampfen“?

  • Trotzdem ein herzliches „Dankeschön“ für viele sichere Fahrten an „die Bahn“ oder den „Pengel-Anton” – oder wie die Züge der Westfälischen Landeseisenbahn im Volksmund auch immer genannt wurden.
    Quellenangabe: Erwitter Heimatbuch 1936; Der Patriot, Jahrgang 1883; persönliche Erinnerungen des Verfassers und durch Befragungen älterer Mitbürger.