2008: Westfälische Landeseisenbahn (Knoche)

Vor 60 Jahre aus der Lehre bei der WLE entlassen

Ein Beitrag zur Geschichte des Westfälischen Landeseisenbahn in Lippstadt

Von Heinrich Knoche, Bad Westernkotten

[Erstabdruck: Knoche, Heinrich, Vor 60 Jahren aus der Lehre bei der WLE entlassen. Ein Beitrag zur Geschichte der Westfälischen Landeseisenbahn in Lippstadt, in: HB 88. Jg, (2008), S.44-47]

Düstere Aussichten?

Ich wurde kurz vor dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ im Frühjahr 1945 unter schweren Bedingungen (im Heizungskeller!) aus der Volksschule Westernkotten entlassen, weil unsere Klassenräume mit Truppen belegt waren. Alle hatten wir eine wehmütige Stimmung, denn wir ahnten ja nicht, was uns nun bevor stand: Unsere Zukunft wurde uns von unserem Lehrer nicht gerade rosig ausgemalt.  Immerhin war unser Pastor Friedrich Becker (gest. Januar 1974),  der während der Nazizeit unsere Schule nicht betreten durfte, bei unserer letzten Zusammenkunft im Keller des Pfarrhauses etwas zuversichtlicher; er segnete uns und wünschte uns einen guten Start ins weitere Leben. Aber auch er war sehr bedrückt.

Lehrstelle bei der WLE ab 1.6.1945

Doch es kam alles ganz anders als man befürchtet hatte, viel besser! – Am 8. Mai 1945 endete der Krieg, und schon am  1. Juni 1945 konnte ich mit noch drei Jungen meines Jahrganges die Maschinenschlosser-Lehre bei der Westfalischen-Landes-Eisen­bahn in Lippstadt beginnen.

Nachdem das Lager, in dem die Kriegsgefangenen Russen unter­gebracht waren, gesäubert war, kamen wir dreizehn junge Männer in die Lehrwerkstatt und der drei Monate dauernde Lehrgang ,,Eisen erzieht“ begann. Dieser fing mit Feilen eines geschmiedeten Würfels von 60 auf 30 mm an, fast jeder bekam Blasen in die Hände. Der Lehrgang endete mit der Herstellung eines funktionierenden Kastenschlosses. Nun war die Probezeit beendet, in der man ständig von den drei Lehrgesellen und dem Lehrmeister Bartmann  bis ins kleinste Detail eingewiesen wurde. Man lernte bohren, drehen, hobeln, schlei­fen, schmieden, löten usw.,  sodass man schon die Grundbegriffe des Schlosserhandwerkes beherrschte, bevor man zur weiteren Ausbildung in die große Eisenbahn-Reparatur-Werk­statt kam. Hier lernte man in den folgenden drei Jahren die faszinierende Technik einer Dampf­lokomotive kennen, deren Wartung, Reparatur und Revision von Grund auf. Man durchlief alle Abteilungen: die Stangen-, Achsen-, Armatur- und Bauabteilung,  die Kessel­schmiede und die Schmiede, in der die Federn gebunden wurden, man lernte Elektro- und Autogen-Schweißen,  kam in die Klempnerei, den Wagenbau  und in die Werkzeugausgabe, in der die Werkzeuge geschärft, angeschliffen und gehärtet wurden.

Etwa alle zwei Monate wurde man zum Botendienst eingeteilt, dazu brauchte man keinen ,,Blaumann“ anzuziehen, denn zweimal täglich musste man die Post zwischen der Hauptwerkstatt -und der Verwaltung am Südertor zustellen. Hierbei bekam man einen kleinen Einblick in die technischen Büros -und auch in die Verwaltung. Im Schulungsraum neben der Lehrwerkstatt bekamen wir jede Woche den Berufsschulunterricht, der von dem Lehrer Oskar Metzger gegeben wurde. Dabei bekamen wir auch die Schulspeisung, die aus den amerikanischen Carepaketen stammte.  Das Werkstatt-Wochenbuch. welches wir auch führen mussten, begann mit dem Sinnspruch ,,Arbeit adelt“ oder etwas Ähnlichem.

Integration der Kriegsheimkehrer und Schwarzmarkt

Nach und nach kamen ab Mitte 1945 WLE-Angehörige aus dem Krieg zurück und wurden wieder eingereiht. Für die Städter war die Ernährungslage nicht gerade ausreichend, einige hatten Hunger,  während wir vom Lande bereits wieder ein Stück Speck in unserem Henkelmann (Düppe) hatten. Es kam vor, dass, wenn man zum Mittag sein Warmge­machtes holen wollte, der Pott vertauscht war. So lernte man auch, wie Wasser­suppe schmeckte.

Die Zeit hatte sich ja wieder geändert; es war nicht mehr so gefährlich, schwarz zu schlachten  und die Wildkaninchen in der Pöppelsche zu frettieren, davon gab‘ s jede Menge.

In der Artilleriefabrik (Rothe Erde) hatten die Engländer ihr Verpflegungslager (Nafy) eingerichtet. Wenn ein Nachschubzug neben der WLE- Werkstatt anhalten musste, ging‘ s ruck zuck übern Zaun, Waggon geöffnet… Und mancher Sack Mehl, Zucker, Kakao, manchmal auch Schokolade und Zigaretten, wechselte den Besitzer. Dieses war für uns kein Dieb­stahl, sondern „organisieren“.  Später klappte dieses nicht mehr, denn die englische Militär-Polizei passte immer schärfer auf. Die Schwarzmarkt-Währung waren eng­lische Zigaretten, eine einzige kostete elf Reichsmark. Wir verdienten aber auch Geld, im ersten Lehrjahr monatlich 25 Reichsmark, im zweiten 35 und im letzten 45.

Unzweifelhafter Höhepunkt: Mit dabei im Lokführerstand

Trotz aller Einschränkungen hatten wir viel Freude an unserem Beruf, vor allem, wenn nach der Überholung einer Lok, welche etwa zwei Monate dauerte, diese angeheizt wurde und wir zu zweit die Probefahrt auf der freien Strecke bis Liesborn im Führerstand mitmachten. Hierbei wurden die Feinheiten der Dampfzufuhr zu den Zylindern einge­stellt; dazu wurde die Feuerkiste geöffnet, und über das Geräusch im Abgaskamin wurden die Schieber eingestellt. Spezialist dafür war meist Adolf Cramer aus Lipperode.

Nun wurden alle Stellschrauben versplintet, und die Maschine konnte wieder für ein Jahr eingesetzt werden. Die Paradelokomotiven der WLE waren die schnellen Personenzuglokomotiven, die bei der Firma Borsig in Berlin gebaut wurden und 70k/h fuhren. Sie hatten die Nummern 31, 32, 33, 34 und 35. Und vor allen Dingen die schweren Güterzuglokomo­tiven 0121, 0122 und 0123, die unter anderem die schweren Steinzüge für die

Zementindustrie schleppten. Es war eine Freude an so einer Maschine zu arbeiten.

Schon früh fasste man den Entschluss, später Lokführer zu werden, das war der Traum vieler Jungen.

Freizeit und Freifahrten

Wenn wir etwas Freizeit hatten, spielten wir Fußball; Fernsehen gab‘ s derzeit noch nicht, und in den Kneipen gab‘ s nur ,,Drüppelbier“.

Als Mitarbeiter der WLE bekamen wir jedes Jahr zehn Freifahrten auf dem eigenen Streckennetz und eine freie Fahrt auf der Bundesbahn, ­egal wohin. Die WLE-Fahrten machten wir meist nach Wamel an der Möhne zum Schwimmen oder auch nach Brilon oder Münster.

Mit noch zwei Kollegen machte ich 1948 eine achttägige Fahrt nach Berchtesgaden. Zwei Tage zuvor war plötzlich die Währungsreform  und mit zwanzig D-Mark kamen wir die ganze Woche aus. Ich konnte mir sogar noch meine erste Uhr kaufen. Plötzlich waren die Schau­fenster mit allen Sachen, die man vorher gar nicht kannte, wieder voll. Das größte war natürlich, dass wir zum ersten Mal im Leben die Alpen sahen und auch den Obersalzberg, der noch gesperrt war, bestiegen.

Nach der Lehrzeit

Nun kam aber nach unserer Rückkunft die große Über­raschung, mit der niemand gerechnet hatte: Allen Lehrlinge des Einstellungsjahrganges 1945 wurden nach der Ablegung ihrer Facharbeiterprüfung vor der Industrie- und Handels­kammer Arnsberg von der WLE gekündigt! -Nun war das Geld etwas wert, aber die Ar­beitsstelle war futsch! Allerdings setzte die Gewerkschaft durch, dass vier unseres Lehrjahr­ganges weiter beschäftigt werden mussten, weil deren Väter nicht mehr lebten und sie schon zur Existenz ihrer Familie beitragen mussten.

Für uns anderen war es dann kein Problem nach dieser erstklassigen Ausbildung bei der WLE einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Ich ging in die Erwitter Zementindustrie, ab 1.0ktober 1948 mit einem Stundenlohn von 86D-Pfennig.

Anmerken möchte ich noch, dass die Westfälische-Landes-Eisenbahn  in diesem Jahr ihr 125- jähriges Bestehen feiern kann. Ich bin immer noch davon angetan, mal wieder eine unter Dampf stehende Oldtimer-Lokomotive im Einsatz zu sehen wie die jetzt im Mai in Lipp­stadt zu sehende Schnellzuglokomotive -Nummer 01 1066, die 2470 PS leistet und eine Spitzengeschwindigkeit von 140 km in der Stunde erreicht!