2025: Luise Erdmann aus Westernkotten schrieb Tagebuch – Transkription eines interessanten Werkes

Von Wolfgang Marcus (Bad Westernkotten)

Vorbemerkungen

Luise Erdmann, geboren 1836, war die älteste Tochter des Solbad-Begründers Franz Erdmann aus Westernkotten. Sie begann das Tagebuch im Jahr 1850 im Alter von 14 Jahren und endet mit Eintragungen aus dem Jahr 1871, 3 Jahre vor dem Tod ihres Mannes Karl Ziel. Das Tagebuch gibt interessante Einblicke in die Gedanken einer Frau um die Mitte des 19. Jahrhunderts wieder. Sie beziehen sich auf viele Themen: das Frauenleben, das Verhältnis von Westernkotten zu anderen Orten, die Ausbildung von Frauen, das Verhältnis von evangelischen und katholischen Christen zur damaligen Zeit uvm.

Detailliertere Schlussfolgerungen und Ergebnisse der Auswertung des „Tagebuchs“ bleibt weiteren „Untersuchungen“ vorbehalten.  – Hier zunächst einmal die Transkription des Textes. Diese hat zunächst Frau Gisela Oberhamburger, eine Ur-Enkelin von Luise Erdmann, handschriftlich vorgenommen. Ich habe diese Abschriften in Kopie bekommen und davon gemeinsam mit meiner Frau Annette alles in eine Word-Datei transkribiert. [1]

Transkription des Tagebuches von Luise Erdmann einschl. der eingelegten losen Blätter

Seite 1:

Melsungen, den 10. August 1850

Ich bin nun schon einige Tage hier und habe noch nicht daran gedacht ein Tagebuch zu schreiben. Es ist aber ein Versprechen welches ich erfülle; und so will ich denn immer auch hier gewissenhaft alles aufschreiben, was mir im Leben begegnet.

Ich soll nun ein neues Leben anfangen, hat mir der Vater gesagt. Ja, das Leben ist mir neu und fremd; es ist hier nicht so wie zu Hause – ich soll hier etwas lernen – wie kann ich lernen, so unruhig wie es hier ist. Die Menschen sind ganz anders, ich kann sie nicht verstehen, dazu jammere ich sehr nach Hause, nach meinen kleinen Geschwistern und denke nur an sie und möchte doch lieber fort. Es sind gestern acht Tage gewesen, wo Mutter und Auguste Jesse [Fräulein Auguste Jesse, Cousine der Mutter Henriette] mich fortbrachten. Mit welcher Freude sagte ich meinen Geschwistern Adieu, aber jetzt wollte ich, ich wäre wieder zu Hause. Dazu bin ich noch nicht mal recht gesund und dann immer fremde Menschen zu sehen ist schrecklich. – An meine Freundinnen habe ich schon geschrieben, hätte ich doch erst wieder

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einen Brief. – Ich soll schreiben, was mich besonders interessiert. Die Gegend ist hier prachtvoll, die Häuser der Stadt sind so alt und die Menschen so sonderbar angezogen. Gestern war ich in der Kirche und konnte nicht einmal die Predigt verstehen. Auch bin ich im Casino gewesen, es war da recht schön.

Melsungen, den 13. September 1850

Heute will ich aber mehr schreiben. Ich bin recht früh, der Vater ist gekommen und in 14 Tagen komme ich in die Pension. Beim Onkel [Carl Jesse in Melsungen] gefällt es mir nicht. Er ist so wild und die Mädchen so ausgelassen, da lernte ich auch nichts und meine Gesundheit ist auch schon wieder besser; auch sagen sie alle ich sehe viel besser aus – unter der Zeit darf ich wieder lernen, ach wie freue ich mich auf meine Bücher. – Was habe ich nur getan in dieser Zeit, ich habe Tante fleißig in der Küche geholfen und kann auch schon Kuchen backen. – Auch habe ich eine Freundin gefunden, Emma Grau, und das ist das einzige

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Mädchen, die mir gefällt. Sie ist so alt wie ich und darf aber noch nicht mit ins Casino gehen – das will ich auch nicht mehr tun, ich habe da doch kein Vergnügen. Ich will nicht mehr tanzen, sondern nur lernen und fleißig sein, das Vater und Mutter recht viel Freude haben sollen. Ach, ich war auf dem Weg zur Zeichenstunde, wo Vater aus dem Postwagen sah und mich anrief, ach wie freue ich mich auf die Schule. – Vater war schon mit mir da und das alte Fräulein war so artig, und es sind so viele nette Mädchen da; ich glaube sie sind alle gut und sie werden mich auch liebhaben, aber alle sagen ich sei so still und stumm. Es mag wohltun und ich jammere so; und ich habe Langeweile, ich soll immer spazieren gehen und darf nicht lernen, und das macht mir keine Freude. Aber alle gehen hier so viel aus; das gefällt mir nicht, Vater mag es auch nicht leiden. Wenn ich mal groß bin, ich mache es aber anders. –  in der Zeit sind wir auch nach dem „Felsenkeller“ und „Lindenbaum“

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und haben Kaffee getrunken. Wir hatten eine prachtvolle Aussicht, ich habe schon Melsungen aufgenommen und [das von mir gemalte. WM] Bild will Vater mit zu G. Kiel nehmen und ihm meine Fortschritte im Zeichen erzählen. Unser Zeichenlehrer ist mit mir sehr zufrieden, die anderen sind weit älter als ich, nur meine Zeichnungen sind am besten. Ach, wie fleißig will ich sein; und wie soll sich Vater freuen, wenn ich meine Zeit nicht verschwendet habe. Meine Cousinen sind recht freundlich, wäre ich nur erst gesund, dann bin auch ich nicht mehr so unfreundlich und so still; bliebe doch der Vater hier, sonst halte ich es nicht aus. –

Melsungen, den 28. November 1850

Wir alle sitzen im Saal. Jedes von uns Mädchen hat ein Tagebuch, aber ich bin so zurückgekommen [sie war offensichtlich in Westernkotten] und habe lange nicht darin geschrieben. In der Stunde müssen wir fertig sein. Hier gefällt es mir sehr gut. Die Frl. Walfs sind so sehr freundlich und alle Mädchen, es sind 48 hier, darunter habe ich schon Freundinnen gefunden. Ich soll der Liebling des alten Fräulein Walf sein – und so

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alte Mädchen sind faltig. – Die beste von allen ist „Emma Grau“ und „Trudchen Burg“ und „Rosa Sparleder“. Am meisten beschäftige ich mich mit Französisch und deutscher Sprache; sehr viel Vergnügen macht mir das Lernen mit Oberlehrer Schoppe. Er sagte gestern ich lernte so gut und solle das beste Zeugnis haben. – Gestern Abend hatten wir einen schönen Spaß. Wir haben Johanna Gruel [?] das Bett fortgerissen und Frl. Walf war aber sehr böse; wir haben ein großes Spektakel gemacht. -Des morgens müssen wir um 6 Uhr aufstehen, dann uns eine ½ Stunde zum Ankleiden, bis 7 Uhr lernen und um 8 Uhr Kaffee trinken. 7 bis 8 Uhr „Spazieren gehen“, es sind jedes Mal 17 Mädchen und wir haben recht viel Freude. Um 9 Uhr haben wir die erste französische Stunde, sodann Weltgeschichte und deutsche Sprache. – Nachmittags französische Unterhaltung mit Handarbeit – abends Englisch – Klavierstunde. –  Mittwoch nachmittags haben wir frei. – Jetzt sind wir am Weihnachtsarbeiten machen und gehen erst um 10 Uhr zu Bett. – Emma und ich haben von Fräulein Walf neue „Zuweisung“ bekommen. Wir haben

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Anleitung in französische und deutsche Aufsätze gehabt; auch hier habe ich in Orthographie und Geographie und Rechnen „gelehrt“ worden; Emma hat mir die Feder fortgenommen. – [launige Seiten sind mit Bleistift geschrieben – also schlecht lesbar]. Diese Woche konnten wir nicht ausgehen, da das Wetter zu schlecht war. – Vom Vater bekam ich heute Morgen Nachricht. Er hat so viele schöne Ermahnungen und „Lenkungen“ in seinem Brief, und sie sollen mir stets vor Augen stehen. – Seinem Wunsch, dass ich mich zur Lehrerin ausbilden soll, will ich aufs treueste erfüllen. Überhaupt kommt mir der Brief vom Vater [es folgen Zitate aus dem Brief ihres Vaters Franz Erdmann] recht ernst vor und so haben die Worte mich heute so ernst gestimmt. „Was ´Rechtes werden oder gar nichts“ schreibt er. Ich will lernen Tag und Nacht, bis ich so viel kann, um selbst Lehrerin zu werden, und es soll von heute die größte Aufgabe meines Lebens sein.

Einige neue Schülerinnen Lisette von Nordeck [?] und Emma von Haustein sind wieder ins

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Institut gekommen. Namentlich gefällt mir Lisette sehr gut und hoffe ich als Bettnachbarin auf ein ruhiges und stilles Mädchen. Des Abends schläft man bis 12 Uhr nicht, da die anderen sich immer Liebesgeschichten erzählen. Es wird jetzt wohl nicht mehr sein, da ich auf dem kleinen Saal mit zehn Schülerinnen bei Fräulein Auguste schlafe. Auch will ich so Unsinn nie hören. Es ist eine große Sünde und doch haben schon so viele Mädchen seine Liebe. Wenn das Fräulein Walf hört, wird sie ganz meschant (wohl böse) werden.

Melsungen, den 6. Januar 1851

Es ist schon wieder eine lange Zeit, ich war recht krank, hatte mir durch einen Fall von der Treppe sehr den Kopf und Rücken gestoßen. Nämlich sechs junge Mädchen wollten mit Fräulein Auguste im Dezember des Morgens bei schönem Frostwetter spazieren. Ich war die erste und will in meiner Freude allen anderen ihre Hüte und Mäntel holen, bin oben fertig (wir alle in Nachtmützen). Ich stehe auf dem Flur, und es ist dunkel, ich höre in der Ecke ein Geräusch und falle 20 Stufen bis unten, die

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Treppe herunter. Ich weiß nichts davon, als dass ich einige Stunden später, den Kopf verbunden, im Bett liege. Lisette von Norddeich [?] erzählt mir, dass der blonde Jüngling, der Liebling des Instituts, mir als Schutzengel zur Seite gestanden hatte. Gustav Grau nennt man ihn. Selbst kann ich über diese „bekannte Größe“ kein Urteil fällen, da ich ihn bis jetzt noch nicht kenne. S. Sterzing habe mich erlöst, Mantel ausgezogen und August Walther in die Stube getragen. Jetzt fängt man an, mich mit Menschen zu necken, die ich nur durch Hören kenne. – Doch ich störe mich nicht daran, wenn ich nur wieder lesen kann. Mein Kopf tut mir noch immer weh, doch bin ich sonst recht zufrieden. Ich habe recht viele gute Freundinnen. Vorgestern bekam ich Besuch von unseren Mädchen aus der Stadt, dieselben hatten den Neujahrsball mitgemacht, und im Casino sei viel gefragt worden, ob ich schon wieder besser sei. Auch Kathinka, Lisette und Johanna waren dort; und der blonde Jüngling soll viel mit Auguste getanzt haben.

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Vom „Schwager Herrn“ [?] bekam ich gestern durch Onkel Karl [Posthalter Carl Jesse, Onkel, Bruder der Mutter] einen Brief und wo mir Thereschen [Therese Erdmann, Westernkotten = Stiefschwester] schrieb, dass sie sich mit Vater ausgesöhnt habe und sie oft nach Westernkotten zur Mutter [Stiefmutter] ginge; „von so aus“ freue ich mich, dann ist Vater nicht mehr so traurig und Mutter wird auch mehr Freude haben. –

Gestern backte Emma Pflaumenkuchen, schickte mir durch den Burschen ein Stück und ließ mir sagen ich möchte ihr schreiben, ob ich morgen die Stunden besuchte. Sie hat mir gewiss viel mitzuteilen; ich habe sie lange nicht gesehen.

Melsungen, im März 1851 [1861 ist im Original ein Schreibfehler.]

Gott sei Dank mit den Geburtstagen der Eltern bin ich fertig und habe das letzte Geschenk an Vater abgeschickt. – Es ist lange, mein liebes Buch, dass ich dich nicht gesehen habe. Heute ist Samstag. Fräulein Walf ist mit unseren Mädchen Charlotte Bodenhausen, Rosa Angner, Dapti Baumann zum Tee bei Oberforstmeister von Guericke [?].

Seite 10:

Ich hatte keine Lust und schützte Kopfweh vor, ich bin aus dem Grunde hiergeblieben. Da diese Stunden für mich sind und ich dich, liebes Tagebuch, recht beschreiben will. Emma geht auch heute nicht aus, und wir beide dürfen uns dann viel erzählen. Doch mein Leben ist nicht so interessant als wie Emma, doch freue ich mich, dass ich nicht so viel erleben brauche. Ich will daher die vielen Ausflüge meiden, da die meisten Kopfzerbrechen machen… Dabei das Wetter ist so schön. Vergangenen Mittwoch machten wir mit einigen Mädchen aus der Stadt eine Partie zum „heiligen Berg“, wo Schokolade getrunken wurde, eine schöne Aussicht von Hessen sah ich. Von der ersten Spitze des Berges sieht man 26 Dörfer und Stadt mit Umgegend. Wir durften uns nicht lange dort aufhalten, weil die Luft noch sehr rau war. Ich war wieder mit Emma und dem Kandidaten Altmüller am Zeichnen. Es ist unsere Lieblingsbeschäftigung. Der Altmüller scheint sich sehr für Emma zu interessieren. Doch bedauere ich ihn; auf dieser Partie gerade hat mir Emma ihr Leid geklagt,

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und sie ist schon verlobt. Ja so jung, es ist mir unerklärlich. Ich kann es beichten, dass sie mir alles so treu erzählt, wie gut es ihr Vetter Karl mit ihr meint, so muss ich nur mich wundern über sie. Ich bedauere Emma, denn sie ist oft recht traurig, da sie nie mit ihm sprechen darf, und der Vater auf strengste es verboten hat. Ich tröste sie so oft und freue mich, dass sie meine Lehren annimmt. Ich für meinen Teil werde mich niemals verloben. Doch Emma ist bildschön und reich, ich hingegen bin nicht schön, und reich bin ich auch nicht. Mein Tagebuch soll nicht sich mit solchen Gedanken rumschleppen. – Bis Samstag ist das erste Konzert, wo ich mitsingen soll. Herr Spohr prüfte am Sonnabend uns und glaubte, ich müsste durchaus das Solo übernehmen. Ich bin so lange nicht im Casino gewesen, und jetzt singen wir, wie wird das wohl auslaufen? Und doch freue ich mich schrecklich, da ich leidenschaftlich gerne singe. Fräulein Auguste ist mir ein liebes Mädchen, sie ist mir eine Freundin – so offen gegen mich und wenn ich auch so wäre, man liebt sie

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allgemein. Sie ist meine beste Lehrerin und bei ihr wird es mir viel leichter. Vorige Woche hatte ich das Vergnügen in der Deutschen Stunde bei Kantor „Mühlhausen“ die Deutschen Vorschriften zu schreiben. Bin ich denn nun so gut, dass er mich immer öffentlich als Muster der Mädchen aufstellt. Sobald Ostern ist, hoffe ich nicht mehr zu den jüngeren zu gehören. Da sechs Mädchen fest fortgehen und ich dann die Rolle als erste wünsche.

Melsungen, den 16. März 1851 [auch hier schreibt sie „1861“]

Heute ist Emmas Geburtstag. Es ist bald 1 Uhr. Ich kann diesen Tag nicht vorübergehen lassen, ohne mein Tagebuch zu benutzen. Heute habe ich viel Vergnügen gehabt. Wir hatten bei Forstinspektor Graus Kaffee und waren auch junge Herren da, und namentlich habe ich viel gesungen. Es geschah auf Veranlassung des Vaters meiner Freundin, sonst ließe ich mich nicht beugen. Fräulein Walf freute sich sehr darüber, überhaupt ist mir das Fräulein sehr zugetan und zeichnet mich sehr aus. Ich musste meinen Platz am Tisch neben Vater und Sohn nehmen, jener

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Ritter, der mich vom Fall errettete. Es kam auch das Gespräch auf dieses Thema. – Emma war überglücklich; als sie mich fortbrachte, erklärte sie mir, dass ich so liebenswürdig gewesen sei, sie habe mir ein großes Geheimnis zu entdecken. Ich bin gewiss nicht neugierig, doch möchte ich wissen, wen es betrifft. Seit März habe ich vieles Freudiges mitgemacht. Das schöne Konzert wo ich viel, viel Vergnügen hatte. Ich habe unendlich viel getanzt. Doch ist Fräulein Walf nicht damit zufrieden. Sie wünscht, dass ich nicht viel ins Casino gehe, da ich sonst meine Studien vernachlässige. Doch jetzt hört es auf, Osterball ist gewesen. Die Veilchen-Bouquets sind vertrocknet, doch ich darf mich nicht vergessen und muss noch fleißig lernen, damit ich morgen in der Stunde mein Französisch und Aufsätze habe. – Augustens Hochzeit war auch und August Jesse aus Erfurt war hier und die kleine Szene, wo er Auguste Walf eine Liebeserklärung machte und ich sie gerade treffe, darf mein liebes Tagebuch nicht vergessen. Ein schönes Bouquet von Primeln steht vor mir, der Geber ist mir nicht bekannt. Doch der Name „L.E.“ verriet gleich, dass ich dasselbe

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haben sollte. Doch ich komme von einem Unsinn auf den anderen. Wie auch am Vorsamstag war bei „Kollmanns“ englisches Kränzchen; ich habe eine neue Liebe entdeckt: Charlotte Bodenhausen, eine wahre Freundin für Emma und mich, ich freue mich für Emma. Charlotte spricht nur über Emmas Liebe mit ihrem Vetter und jetzt ist sie selbst gefangen. Von mir kann sie nichts sagen. Ich habe und will keine Liebe haben! Was kann ich dafür, wenn sich G. Grau für mich interessiert; ich gehe ihm keine Gelegenheit. Seine Äußerungen im englischen Kränzchen können auf jemand anderen Bezug haben. Es sind mehrere Mädchen, die schwarze Augen haben; auch glaube ich nicht, dass ich so verliebt sein könnte wie meine Freundinnen. Ich mache mir selbst Vorwürfe, dass ich auf den Unsinn der Mädchen eingehe und zu offen bin. Sie deuten mir alles anders und denken am Ende, ich habe solche dummen Sachen im Kopf wie sie. Doch für heute schließe ich, … [unklare drei französische Worte. WM]

Melsungen, den 14. Juli 1851

Schon wieder, Gott sei Dank, bin ich ein Jahr älter, ach erst 15 Jahre riefen alle,

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alle Mädchen, ich gelte für 17. Wie schön man glaubt es mir nicht, dass ich so jung bin; sehe ich so alt aus? Oder man sagt ich sei für mein Alter so ernst und verständig als ein Mädchen von 20 Jahren. Doch es war gestern mein Geburtstag. Von Vater erhielt ich aus Nordhausen eine Kette, von Mutter ein halbes Dutzend Hemden und Kleid, von Adelheidchen eine Schürze, von Emma einen Ring, von sämtlichen Mitschülerinnen, Lisette namentlich, einen Kragen. Von Graus wurde ich zum Kaffee eingeladen und in deren Garten getrunken. Vom Vater der Emma [erhielt] ich eine Schüssel mit Bücklingen mit und Lob für alles, namentlich meiner Zeichnungen, die er beim letzten Probetag gesehen hatte. – Nach dem Treffen fuhren wir nach Röhrenfurth, eine halbe Stunde von hier und hatten dort Maibowle – wunderbar. Frau Grau erzählte mir, dass ihr Mann nie mit einem jungen Mädchen so freundlich sein kann, aber für mich, als Freundin ihrer Tochter, könne er alles tun und sei es das größte Opfer. Es rührt mich so zu Tränen, dass der alte Mann so an mir hängt, ich bin so richtig sein Liebling geworden. Es ist gestern ein schöner Geburtstag gewesen.

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Und doch denke ich viel an Mutter, sie ist so angespannt, schreibt mir so wenig; auch sollten wohl die Kinder sehr krank sein, ich muss ständig nach Hause denken. Nicht einmal hat mir heute das Essen geschmeckt. Auch habe ich von Heinrich „Hohrlose“ einen schönen Gratulationswunsch bekommen, ich will ihm aber auch schreiben von meinen vielen Lernen. Ich kann gewiss schon weiter sein wie er ist. Es ist schade, dass ich kein Junge bin und mit ihm nicht eifern kann. Ich möchte so gerne auch studieren, aber ich muss einfinden. – Wir gehen bei diesem schönen Wetter viel spazieren; gestern gerade war Prager Musik im Casino und von unseren Fenstern aus konnten wir dieselbe schwungvoll feiern.

Melsungen, im Juli 1851

Ich sollte täglich ins Tagebuch schreiben, doch dann wird es langweilig, wir baden nun fleißig. Die Mädchen hätten mich beinah durch ihre dummen Streiche töten können. Sie füttern die Fische – vor Schreck wurde ich ohnmächtig – die prachtvolle Fulda hätte dann ihr Opfer gehabt.

Seite 17:

den Oktober 1851

Die Ferien sind aus. Alles geht wieder an sein Werk. Auch ich muss fleißig lernen, mein Zeugnis ist sehr gut ausgefallen. Als erste von allen Schülerinnen bin ich aufgerufen. Der Vater war hier, und noch ein Jahr soll ich hierbleiben. Ich freue mich recht, denn Melsungen ist mir lieb geworden. Es sind so gute Menschen hier und nächstes Jahr bin ich als Lehrerin so weit, dass ich mein Examen machen kann. Welche Freude. Man sagt ich tauge nicht zur Lehrerin, ich widerspreche: warum nicht? Ich bin noch jung und lebensfrüh. Seit acht Tagen ist unser Französisch-Kränzchen wieder hergestellt. Es ist mir schrecklich, dass gerade der Robert [Freund von G. Grau] da ist, ich weiß nicht dieser Mensch steht mir überall in dem Weg. Wäre er nur erst fort, damit ich diese ewige Meckerei nicht mehr hören brauche. Doch dir, liebes Buch, will ich die Briefgeschichte mitteilen, die mir vor zwei Tagen widerfuhr. Gestern Nachmittag brachte mir, als ich aus der Geographie-Stunde kam, unsere Hausfrau Hamsen einen Brief, aber heimlich sagte sie.

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Ich entsetze nicht daraus, da ich nichts Besonderes denke und glaube, dass Emma, die jetzt nicht mehr die Stunden besucht, habe mir einige Zeilen geschrieben aus Jammer nach mir, da wir uns einige Tage nicht gesehen hatten. Aber oh Himmel, welch verrückter Brief, und doch nur sonderbar geschrieben. Herr Sterzing, welcher jetzt fortgeht, und mit dem ich „einvernehmlich“ auf Parthien beisammen zusammengekommen bin, war am Sonntag bei uns gewesen, um uns anbei zu sagen, dass der Kursus jetzt beendet und die jungen Leute von hier fortgehen. Er schreibt mir in den Zeilen seine Zuneigung und dass der Abschied von mir am wehesten sei und ihm leidtut, mir nicht einmal seine Liebe habe sagen können. – Jetzt bin ich ruhiger darüber. Ich musste erst einmal weinen vor Ärger, ging sogleich zu Frl. Walf und zeigte ihr den Brief. Sie hat mich so beruhigt, dass ich mich nur freue, ihr dieses gesagt zu haben. Sie ist so gut gegen mich und nennt mich ihre liebste Schülerin. Ich bat heute

Seite 19:

nun Fräulein Walf ausgehen zu dürfen, und ich fand meine Emma in der größten liebenswürdigsten Laune und wusste schon von dem Brief; wie schrecklich ich war: Ich war mal nicht bei ihr gewesen. Doch ihr Bruder Gustav, welcher der Vertraute von G. Sterzing ist, hat den Brief vorher gelesen, dieser schreckliche neue Ärger nimmt kein Ende. Sie wussten alle, welche Abneigung ich für diesen Menschen habe – und doch können sie mich so quälen. Doch ich freue mich; G. Grau sagte mir morgen gingen sie fort, und er begleite sie bis über den heiligen Berg morgen wollten sie mir noch einmal sagen…

Dieser Vorfall hat mich eigentlich bestärkt nicht zu meiner Tante zu gehen, da ich auch denke die Mädchen wissen davon; unsereins muss sich nicht schämen! Es scheint, als habe Emmas Bruder diese dumme Geschichte in Schuld und die dummen Mädchen werden nun bald aufhören, da meine Stunden wieder so besetzt sind und ich mir…

Den 23. Dezember 1851

Gott sei Dank, dass wir wieder Christfest haben; aber es ist

Seite 20:

[Bleistiftschrift nicht lesbar]

das erste Mal, dass ich kaum …

habe so schrecklich an Kopfschmerzen gelitten, weil sie schrecklich lärmen müssen … hatte auch nicht mal …bis es Dr. Schott verbat. Wie freue ich mich schön auf dieses schöne Christfest; und doch die Christ-Tage sind hart… zu Hause [jetzt wieder mit Tinte geschrieben].

Ich wurde durch die Mädchen. welche noch arbeiten wollten, gestört und will nun heute, den 4. Januar 1852, fortsetzen. Der schöne Christtag ist vorbei, das zweite Jahr, dass ich nicht bei meinen Eltern feiere. Nach langer Zeit ging ich am ersten Festtag zu Jesse [Onkel Karl, Postmeister]. Daselbst war viel Besuch aus Kassel. Den Abend wurde ich zu Graus eingeladen, da der Geburtstag des Vaters der Emma war; wir spielten dort „Tische-Rücken“ und „Storchenschnabel“, wo wir viel Pläsir hatten. Es wurde dort der Baum angezündet und auch mein Honigkuchen fehlte nicht. Den zweiten Tag ging es nach dem Casino- Baum. Wir Pensionärinnen gingen alle nach der Kirche spazieren, von da nach Haus, 

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wo Fräulein Walf für uns einen wunderschönen Baum fertig hatte. Ein jeder das Geschenk der Eltern nebst Briefberg darunter, und ein Andenken, ein gesticktes Tuch von Fräulein Walf. Es wurde erst Tee getrunken, und dann gingen wir ins Casino, wo wir uns alle schon wochenlang darauf gefreut hatten; da war ein wunderschöner Baum; wir hatten auch Lose genommen. Ich gewann eine Pfeife, die ich gleich Emmas Vater schenkte. Nach dem Verlosen wurde sehr viel getanzt. Ich durfte nicht tanzen, und wir, Emma, Rosalie und Auguste, setzten uns in die schwarze Ecke, und kaum hatten wir einige Minuten gesessen, da hatten wir gleich Gesellschaft: Herr Kollmann, Grau und Kandidat Baumann unterhielten uns aufs Schönste. Bis mich Frl. Walf schon um 11 Uhr fortholte, da ich nicht länger bleiben sollte. – Es sollte noch bis 2 Uhr getanzt worden sein. Vom Christtag bis vorgestern (2.1.) war keine Stunde. – Neujahr bin ich nicht zum Ball gewesen, da meine Kopfschmerzen immer noch häufig da sind und ich oft nicht gehen kann. Ich habe die Zeit fleißig

Seite 22:

gelernt wie ich konnte. Meine Freundinnen hatten viel mehr Vergnügen, da ich nirgends mit hindurfte. Wie finde ich es hier doch öde und so einsam. Der Christtag bei den Eltern ist doch weit schöner. – Wäre ich doch zu Hause gewesen, hier hatte ich keine Freude; ach, wenn der Vater uns Kinder rief und mir waren in der Wohnstube schon fertig angezogen worden. [Ich nehme an frühmorgens am 25.12.]  Und dann der schöne Baum und die schönen Sachen in der guten Stube standen. Und diese Freude von meinen kleinen Geschwistern, wie sie die schönen Kerzen sahen und die Spielsachen! Das ist alles ganz anders wie hier. Die einzige Freude die ich hatte war der Brief und das Kleid von Hause. – Dann hatte ich nur die Freude gemacht, eine ganze arme Frau aus der Nachbarschaft zu beschenken. Ich hatte Handschuhe und Schürzen genäht, ging den Christabend hin, in der Dämmerung, und gab dem kleinsten Kindchen („Mathilden“) das Kleidchen voll Sachen und ging fort, da sie mich nicht kennen sollte;

Seite 23:

den anderen Tag begegnete sie mir auf dem Kirchweg und sie dankte mir glücklich. Es wurde dieses die schönste Freude, die ich hatte; die arme Witwe hat nichts aufs Fest bekommen außer meiner kleinen Gaben. Es rührt mich so, dass ich den ganzen Tag daran denken musste. So feiere ich doch noch schöner „Christtag“ als diese arme Frau ohne Vater und will niemals mehr unzufrieden sein, wenn ich den Unterschied bedenke: neun arme Kinder und wie ich feiere, die ohne mich keine Christfreude gehabt hätten. – Gestern Abend war englisches Kränzchen. Herr Weber deklamierte einige Stücke, fast wurde nur Englisch vorgelesen, wir waren alle recht fidel. Der Kranz dauerte ziemlich lange, da noch eine Partie besprochen wurde, die Samstag mit Schlitten gemacht werden soll.

Melsungen, den 28. Mai 1852

Mein Tagebuch wird bald ganz vergessen, aber denke, wo ich mehr Zeit habe, will ich auch einiges notieren, welches ich nicht gerne vergessen möchte. –

Seite 24:

Emma, meine Freundin, feierte die Verlobung mit dem [?] Mittmüller [?]. Wie sehr mich dieses angegriffen hat, kann ich mir selbst nicht sagen; dieses arme Mädchen so gegen ihre Gefühle, ohne Liebe zu heiraten, muss doch schrecklich sein. Ich fand Emma ganz fidel, aber ihr Blick war doch so schwermütig, und der arme Karl [Emmas Vetter] tut mir sehr leid. Emma hat an ihm Unrecht gehandelt. Doch sie musste, weil es der Vater haben wollte. Wenn ich an meine Schwester [Theresia] denke, wie ungehorsam die war, so kann ich mir recht gut denken, warum mein Vater mir immer so schrecklich viel vorpredigt, doch ich will es ja nicht so machen. Diese Verlobung erregt allgemeines Auffallen, man fragt mich überall. Gestern bekam ich endlich meinen Ring wieder, den mir G. Grau beim „Furt“ genommen hatte und den ich verloren glaubte. Warum neckt man mich nur immer mit Grau? Diese Frage stelle ich täglich an meine Freundinnen. Kann ich dafür, dass er mich vielleicht gernhat

Seite 25:

und viel mit mir tanzt. Ich gehe doch, seitdem man mich „fixiert“, auf ihn nicht mehr zu, dass es sogar seinen Eltern auffällt. Doch ich wollte nur etwas notieren. –

Zum 1 April musste G. Grau nach Marburg. Den Tag morgen machte er bei uns Abschiedsbesuch. Ich sitze mit acht Pensionärinnen an „Rosaliens Nachlass“ [4] zu übersetzen, als uns Fräulein Walf den jungen Herren vorstellte. Auguste ihr Auge begegnete den Meinigen; sie wurde rot; daran merkte ich, dass sie ihn gernhat. Ich blieb ganz gelassen, aber als ich aufstand, fiel mir Emmas Ring vom Finger. Alle suchten gleich und niemand fand ihn. Grau gab sich die größte Mühe ihn zu finden, aber vergebens. Er nahm feierlich Abschied und empfahl sich. Allgemeine Unruhe entstand. Ich war blass vor Ärger, dass ich so gerade schuld daran war.

Grau hatte zu Hause nichts erzählt. Den anderen Tag früh ließ mich Emma wütend rufen [?]. Ich ging erst gegen Abend hin. Ich fand sie sehr vergnügt, sie war so vergnügt, dass ich außer mir war.

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Sie entdeckte mir, dass ihr Bruder ihr das Geheimnis anvertraut habe und mich liebte. – Ich wollte nichts glauben. Aber anstatt eines Versehens, welche ich von ihm haben sollte, bekam ich einen kleinen Brief, welchen er ungefähr seinem Freund Robert nachgemacht hat; mir kommt dieses lächerlich vor und es fällt mir nicht ein, den zu lieben, der [heute] dieser und übermorgen jener den Hof macht; ja, ich sehe ihn recht gern, er tanzt wunderschön: Aber ist das Liebe? Da muss ich tiefer über nachdenken! In Rosas Nachlass wird Liebe anders beschrieben.

Emma zürnte mir, als ich sie so auslachte, und sagte, ich sollte es Fräulein Walf doch mal erzählen; recht böse! Jetzt ist sie mir wieder gut, und wir sprechen oft recht vernünftig zusammen von Grau, von zukünftigem Haushalt. Wenn ich mir denke, wie schön sie das alles bekommt, so habe ich oft keine Lust zum Lernen, und ich möchte die Bücher über Seite schmeißen. Gestern kam sie und hatte meinen Ring, den sie mir geschenkt hatte, und ich sah langsam erstaunt darüber.

Seite 27:

Gestern kam sie und hatte meinen Ring, den sie mir geschenkt hatte, und ich bin ganz erstaunt darüber. Ihr Bruder hat geschrieben und ihn mitgeschickt; er hat ihn doch gefunden und so lange behalten. Am Sonntag war Konzert. Ich hatte dort recht viel Pläsir; ich habe schrecklich viel getanzt. Ich habe nicht viel gesungen und ich glaube, Grau war früher daran schuld, weil er vorher immer neckte und ich nette Jungens wünschte. Es waren viele da [x= unleserlich in der Kopie. WM]

Melsungen, den 4. August 1852

Wir sind alle ausgemessen. Ich bin heute so verstimmt. Mutter hat geschrieben und ist krank gewesen. Der Vater ist nicht da. Sie schreibt mir und wünscht, dass ich bald wiederkommen möchte, da sie mich bei den kleinen Geschwistern sehr nötig habe. Ich gehe ungern fort. Ich habe so unendlich Lust am Lernen, und meine Freundinnen muss ich alle entbehren. Doch meine Eltern sind mir nah.

Seite 28:

Melsungen, den 25. Dezember 1852

Es ist 3 Uhr, ich (16,5 Jahre) kann nicht schlafen. Es ist heute der wichtigste Tag meines Lebens gewesen. Bin ich glücklich, unglücklich, freudig oder was bin ich eigentlich, verstimmt, traurig, ängstlich? – Alles das. Du, mein liebes Buch, dir muss ich klagen, niemand mögest du es erzählen wie mir zumute ist. Glücklich sollte ich sein. Ist nicht Grau der schönste Mann und die Braut von ihm zu sein, ist das nicht Glück! Und wie liebt er mich! Es ist heute mein Verlobungstag Ich bin verliebt! So jung ohne Vaters und Mutters Zusage, dies drückt mir das Herz ab. Es ist mir, als habe ich ein Verbrechen begangen.

Ich wollte nicht lieben, weil ich mich erst prüfen wollte und habe doch „ja“ gesagt: Dieser Leichtsinn; oh, was fange ich nur an? Was wird Vater sagen, erfährt er dieses. Habe ich Grau belogen – liebe ich ihn? Ich liebe doch niemand anders? Ich sollte und soll glücklich sein und bin es nicht; es drückt mich, was wird das – ist das ungehorsam gegen die Eltern?

Seite 29:

Ich habe mir immer zugesehen, wie es so läuft, mich zu verloben und jetzt so ohne nachzudenken? Ich habe keine Ruhe und kann nicht schlafen. Ich wollte niemand lieben, weil meine Eltern so unglücklich über meine Schwester sind. Ich jedoch – vergangene Stunden war ich noch so vergnügt. Ich war bei Pfarrer Wagners zum Tee. Das Brautpaar war einig.

Westernkotten, den 21. März 1853 [>Bleistiftschrift]

So bin ich denn in Westernkotten.

Schon längst hatte ich schreiben können, doch die Lust fehlt mir. Als ich zuletzt schrieb [Weihnachtstag], war ich noch in Melsungen, und zwar war es in der Nacht wie ich nicht schlafen konnte. Die Mädchen störten mich darin, dass Hannchen aufstand und wohl die Luft ausblieb. – Ich wollte eigentlich die Verlobung erzählen. Grau war auch da. Ich sang und merkte, dass Grau Tränen in sein Tuch fielen, ich musste ihn arg beleidigt haben. Er fragte mich, ob ich ihm das „Wortmuster“ [?] als Geschenk machen kann. Ich passte und gab ihm eine

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leere Nuss-Schale. Er wird sehr still und setzt sich zu meinem Schwager. Während des Singens ging ich auf und ab. Wir gingen nach Hause, er begleitete mich, es war dreiviertel zehn Uhr, als wir an der Laterne vor der Türe ankamen, es war so hell. Da ich keinen Schlüssel hatte und mich Frl. Walf etwas warten ließ, hatte er Gelegenheit zu sprechen. Es tat mir leid, dass ich ihn beleidigt hatte. Er sah mich so traurig an und fragte, ob ich ihn zum glücklichsten der Menschen machen wolle, ich sagte „Ja“ und Frl. Walf machte, indem ich dies sagte, selbst die Tür auf. Ich schützte Kopfschmerzen vor und legte mich zu Bett. Konnte nicht schlafen, es war keine schöne Zeit für mich. Den anderen Tag ließ mich Emma rufen. Ich schrieb ihr, ich sei krank. Gustav war in der peinlichsten Lage, ich war zerstört. Ich ging, da wir keine Stunden hatten, einige Tage nach „Beißeforst“ zu „Snakedeißens“. Emma wusste dies und Gustav, der dieses gehört hatte, ging dorthin auf die Jagd. Wir hatten uns noch nicht gesprochen. Wenn ich noch daran denke

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wird mir heiß, wie ungezogen ich war und wie eigen ich Gustav behandelte. Er stellte mich zur Rede, warum ich so handle. Als er gehen musste, brachten seine Cousine und ich ihn auf den Weg. Es war sieben Uhr und wundervoll Mondlicht. Ich wollte seinen Arm nicht nehmen. Darauf stellte er mich seiner Cousine Auguste als seine Braut vor. Ich musste schrecklich weinen, und er gab mir da den ersten Kuss und ich litt es auch; er war fort ehe ich es wusste. Er hatte es längst seiner Tante mitgeteilt und dort angekommen wurde dies alles erzählt.  – Den folgenden Tag musste ich nach Melsungen, wo Neujahrsball war; ich ging hin, war aber lange nicht so vergnügt. Den Tag nachher schrieb mir Grau einige Zeilen und Emma holte mich nach Graus Hause. Gustav brachte mich seiner Mutter. Diesen Tag vergesse ich nimmer und stets will ich der Lehren denken, die mir seine Mutter gab. Der Vater soll noch nichts wissen, da er erst eine Existenz für uns haben will und auch dann Gustav zu meinem Vater kommen will. Seine Schwestern alle wusste es. In der größten Freude hatte es Emma erzählt, aber Geheimnis.

Seite 32:

Gustav sollte bis Fastnacht dableiben und sich zum Examen vorbereiten. Wir sahen uns wenig, nur im Casino und englisches Kränzchen. Von Anfang an hatte ich ihm verboten jede Schreiberei und Zusammenkunft; und wie freue ich mich, denn jede Liebschaft ist mir so zuwider??, dass ich da fort bin. – Im Februar kam Vater, um mich zu holen. Ich sollte erst mein Examen machen. Das Schriftliche wurde mir erlassen, da ich als beste Schülerin abging. Der Abschied von Melsungen wurde mir schwer von Emma und Gustav. Wir reisten nach Nordhausen. Da gefiel es mir recht gut, und nun bin ich einige Tage hier. Gustav habe ich nicht einmal Adieu sagen können, ebenso konnte ich an Emmas Hochzeit, die vorige Woche war, nicht teilnehmen. Emma schrieb mir und Gustav bat mich herüber zu kommen.

Westernkotten hat auf mich einen schrecklichen Eindruck gemacht. Ich habe meine Besuche alle gemacht. In Erwitte bei Groos [Kaufmann Friedrich Groos, Erwitte (siehe Zeitschrift-Ausschnitt)] habe ich eine schreckliche Geschichte entdeckt, und ich mag nicht einmal dieses Tagebuch damit beschmutzen. Bis jetzt war es nur ein Geheimnis; meine beste Freundin

Seite 33:

so ein Unglück begehen? Es ist mir schrecklich, wenn ich daran denke, dass Karoline so schrecklich handeln konnte, und die armen Eltern so beleidigen, ich wäre ins Wasser gesprungen. – Meine Geschwister sind alle so groß geworden und ich habe schon fleißig mit ihnen angefangen zu lernen; und nun muss ich daran denken, dass ich auch mal Hausfrau werden soll und muss mich viel um den Haushalt bekümmern damit ich später tüchtig wirtschaften kann.

Im Juli 1853 (17 Jahre)

Schon seit einigen Tagen bin ich nicht recht wohl, meine Gesundheit ist so angegriffen. Der Steinmann verbot mir gestern jede Anstrengung. Ich befürchte, dass es schlimmer mit mir wird. – doch ich bin noch jung und kann viel aushalten. Gustav schrieb mir gestern und es macht mir jedes Mal ein Brief von ihm viel Freude. Ich hatte mit Mutter eine kleine Spannung. Die Kinder machen mir viel Verdruss, sie werden schrecklich verzogen und ist dieses ein rechter Ärger für mich.

Seite 34:

Westernkotten, im Oktober 1853

Ich habe seit langer Zeit keinen so vergnügten Tag gehabt wie heute. Ich habe wieder gesungen und bin recht vergnügt. Mein Freund „Herlose“ besuchte uns fleißig; wir haben viel zusammen musiziert, ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Der Vater hat Heinrich sehr lieb, und die Tränen kann ich nur nicht enthalten, wenn ich denke, dass Heinrich schwindsüchtig ist; er ist fürchterlich elend. Wie sonderbar stehen wir uns jetzt gegenüber, wie unsicher gegen sonst, die schönen „Spielzeiten“. Er sieht mich immer so an, dass ich ganz eigen werde. Es mag vielleicht seine Krankheit tun, weiß er, dass ich verlobt bin? Er sprach heute so fromm und schön, dass er mich ganz eingenommen hat; wüsste es Grau, so wäre er ohne Ende eifersüchtig. Doch das braucht er nicht, ich würde Heinrich nicht lieben können, obgleich er mein Freund ist.

Ca. Oktober 1854 (18 Jahre)

Es ist bereits ein Jahr her, dass ich nicht mehr an mein liebes Tagebuch gedacht habe.

Seite 35:

Heute will ich, wenn auch nicht viel, doch etwas darin schreiben. Viel habe ich mitgemacht, Freudiges und Trauriges. Im März starben Onkel und meine liebe, gute Großmutter [Louisa Jesse, geb. Zoll *28.5.1779, † März 1855]. Mein Vater ist mit mir oft unzufrieden, warum? Ich bin ihm zu still, „unharmonisch“, wie er oft sagt, doch das hat seine Ursache. – Ich bin Braut, soll ja Braut sein und bekomme auch oft Briefe, aber sehe ja meinen Gustav gar nicht

Ich soll und will ihn gern lieben, aber wenn man sich nicht sieht, das ist schrecklich. Dazu soll ich heute Sängerin und morgen Malerin werden. Zu beiden hätte ich große Lust, aber wie mit Gustav? In Köln ist schwer für mich ein Logis gemietet, und nächste Woche soll ich fort, es ist mir schrecklich. Die Mutter hat Hilfe genug, aber ich soll alles verlassen und eine Berufsausbildung beginnen, die mir zuwider ist. Was habe ich denn sonst vom Leben? Der Vater ist sehr verdrießlich und Mutter ebenfalls. Meine Stellung hier ist kaum angenehm. Es ist ein Glück für mich, dass Vater nicht merkt, dass

[Hier füge ich den Brief ein, den Gustav Grau wohl an Weihnachten 1856 an Louisa Erdmann schrieb. Er liegt – aus zwei losen Blättern – der Originalschrift bei. WM]

  • Brief von Gustav an seine Verlobte Louisa Erdmann, davor ein Gedicht

Melsungen, am 25. Dezember 185(4) (?)

„Hält auch die Ferne dich umfangen, stehst du mir doch ewig nah

und kann das Wort dich nicht erlangen für die Gedanken bist du da;

der schwebefrei durch alle Räume und bringt dir treu den Seelengruß

verweht sich sanft ins Reich der Träume und raucht dich an als Engelskuss.

Der flüstert süße liebesworte vernehmbar in das offene Ohr;

und wenn sich schließt die mächtige Pforte besetzt er still des Tages Tor.

Und nun auch strömt die bunte Menge und wie auch fließt der Redefluss,

es bahnt der Weg sich durchs Gedränge der freundliche Gedankengruß. –

Drum mag uns auch die Ferne trennen sind nur die Herzen immer nahe

und zu dem geistigen erkennen die liebenden Gedanken da.“

„Meine Liebe Luisa!   

Wieder ist ein Jahr geschwunden. – Das zweite seit dem Tag unserer Verlobung – und noch immer nicht gönnte uns das Schicksal, uns auch nur einmal zu sehen, und nur einmal zu sprechen. Aber nicht zürnen will ich ihm, will nur daran denken, dass zwei lange Jahre von der Zeit hin sind, die uns noch von unserer gänzlichen Verbindung trennt. Deshalb freue auch du dich heute mit mir, klage nicht über die lange Trennung, sondern denke daran, dass der Tag, der uns gewiss wieder zusammenführt, einen nun so größeren Genuss gewährt, weil er so lange zögert bis er uns erscheint. Denke daran, dass zwei Jahre verflossen sind und jetzt nur noch wenige Monate bis zu dem Tag sind, wenn du – wie ich hoffe – dem in deinem letzten Schreiben gezeigten Plan zufolge, auf Ostern nach Hallenberg reisest. Ich werde jedenfalls kommen und freue ich mich, dann auch Herrn Schneider kennenlernen zu können.

Gestern Abend um 8 Uhr bin ich erst wieder hier angelangt, nachdem ich einen Umweg hierher über Kassel genommen. Wir hatten in Retterode noch immer zu arbeiten, sind aber nun soweit fertig, dass wir in etwa drei Wochen sämtliche deren Vollendung nun jeder einzeln wahrnehmen kann, nach Kassel expedieren können.

In Retterode gefiel es mir recht gut; besonders aber auch deshalb, weil ich daselbst ein sehr nettes Mädchen, nämlich Hermine Kesselmann (23 Jahre etwa alt und durchaus nicht hübsch) kennenlernte, der ich dann auch von meiner Liebe zu dir erzählt habe, und die sich freut, dich auch recht bald einmal kennenzulernen. Sie hat mir ihr Stammtuch mitgegeben, damit ich ihr einige Zeilen da reinschreiben kann. Obiges Gedicht habe ich darin gefunden, und weil es meinen Gedanken so recht entsprach für dich aufgeschrieben. Ein andermal will ich dir mehr von ihr erzählen.

Anbei sende ich dir eine Briefmappe, in der Hoffnung, dass sie nach deinem Geschmack ist, und dass du sie recht benutzest; vor allem aber, dass die inliegenden Bögen recht bald wieder – aber freilich schon mit den Versicherungen, deiner unwandelbaren Liebe zu mir, mit den Versicherungen deine Gesundheit und noch meiner bestehenden Munterkeit – in meinen Händen sind.

Dass ich dieses Mal nicht mich kurzfasse, nimm weiter nicht übel: Bald erhältst du einen längeren Brief. Heute ist mir aber nicht möglich mehr zu schreiben, da ich eines Teils noch gerne will, dass die Mappe recht bald in deine Hände kommt, und darum Teile bei [?] Bruder Adolf und Berta angekommen sind.

Lebe deshalb für heute wohl: Ich weiß, heute Abend gegen 8 Uhr gedachtest du ebenso lebhaft an die glückselige Stunde, die uns vor zwei Jahren vereinte und Dir gab

Deinen treuen Gustav.

Herzliche Grüße bitte ich an deine Frau Mutter und Geschwister sowohl von mir, als von meinen Anverwandten, auszurichten. Adelheid hat noch nichts von sich hören lassen.

Seite 36:

ich ein Verhältnis habe. O Gott, ich lebe! Denke ich daran, ich will auch so wenig schreiben wie möglich.

Im Januar 1855

Nach dem Balle. Vier Uhr. Ich komme soeben mit meinen Eltern vom Balle. War es nun nicht der größte Wahnsinn, dass ich da war? So herum zu tanzen ohne Zweck? Und was fällt dem Vater ein, glaubt er wirklich, Reinhard möchte mich gern leiden? Kann ich ihm „verzeihen“, dass er so viel mit mir tanzt und dass er so viel uns besucht. Niemals hat er mir jedoch etwas zugesagt. Ich will keinen Jesse heiraten, und er braucht mich auch nicht auf zu „lenken“ [?] – Um sechs Uhr will mich Vater schon wieder wecken; das ist nicht nötig, ich habe keinen Schlaf. Soll ich Reinhard erzählen, ich sei verlobt? Von mir soll er das sobald erfahren, wenn es nötig ist und er mich nicht in Ruhe lässt [?]. Wie war es auf dem Lesen beim Tagebuch. Auch ich habe meine Sorgen, werde es aber nie leid, das ist alles. Theresia (Halbschwester) sah

Seite 37:

reizend aus, und diese Geschichte mit Hermann sagte ihr nicht sehr zu. –

Die schreckliche Musik heute Nacht. Alle waren sie hier. Wie anders war es in Melsungen. Ich denke doch oft daran, ob Gustav auch recht viel tanzt.

Im März 1855

Welch schreckliche Unruhe in unserem Hause. Man kommt nicht zu sich selbst. Dann wieder Besuch wird zuletzt versorgt? Schon seit drei Wochen ist Tante Zoll mit vier Kindern hier und Mutter acht Tage krank, ich komme nicht durch die Arbeit. Wäre Gustav wieder mit ihnen fort und Ostern erst vorbei. Warum lasse ich Grau so lange warten? Es ist doch schrecklich, dass ich ihn so gar nicht sehe und wieviel Sorgen mir das macht, immer so freudig schreiben, doch bald gehe ich hin, hoffentlich sehen wir uns.

Im August 1855 (19 Jahre)

Ich bin heute nicht eingestimmt. Schon, wenn ich an meinen Vater denke, an die vielen Sorgen? Und dieser große Haushalt?

Seite 38:

Wie verworren – die vielen Mägde laufen sich bald über [sehr unleserlich], diese Kinder gehören fort und Thereschen muss die Kinder mit dem Wagen holen. Wie verlassen das Haus? Wie frei, als ob sie nicht wüssten von allem und keine Eltern mehr hätten und wieder Jessens. – Der Augenblick unvergessen, wie sie auf einmal von Mutter Reisegeld haben wollten. Und wie ändert sich alles im Leben, zuletzt haben andere die Last. Vater sieht so traurig aus und die Mutter … – Doch welchen Einfluss hat dieses auf meine Stimmung, ich bin unendlich traurig. Der Vater ist so eigen gegen mich. Er sollte Reinhard das Haus verbieten; ich kann es ihm nicht sagen und er glaubt es, ich würde einen Katholiken heiraten. Könnte ich es doch Vater sagen, dass ich verlobt sei, dass er so keine große Sorge zu haben braucht. Ich bin mit mir nicht zufrieden. –

[Einschub/Nachtrag:] April – May 1855

Ich war im April-May in Melsungen, ich traf Gustav dort nicht, er war auf Forstberufung nach Schmalkalden. Mit seinem Vater reiste ich zu Emma

Seite 39:

nach Roppershausen, ach diese Freude, der kleine Gustav war vier Tage alt, und doch stimmt mich Emma nur traurig. Wenn es mir auch mal so ginge, warum hat mir Emma das auch erzählt, wüsste ich es nicht, wäre es mir nicht schrecklich, aber so – kann ich mit meiner wahren Seelenangst daran denken. Wie war sie so vergnügt über den kleinen Sohn, dann wieder so traurig über ihre Ehe, wie unglücklich lebt sie, wie albern ist ihr Mann, er gefällt mir gar nicht.

Gustav war nur einen Tag in Roppershausen und wir konnten nur wenig zusammen sein; welche Freude, wenn er mich sah, aber wie fremd sind wir uns geworden. Wüsste sein Vater, dass wir verlobt seien, gewiss, er wäre so freudig mit ihm, da er Freund vom frühen Verloben ist. Gustav ging am Nachmittag schon wieder nach Hegen (?), mit einem Kompliment empfahl er sich – Dieses ist nun mein Brautstand, nein! Ich kann nur noch mit Tränen daran denken, doch was für Glückstage (?) Ich kann nicht eher bis ich Brod habe.? [Schlusssätze]

Seite 40: > eingefügt eine Kopie der Urschrift

Seite 41:

Das war das letzte Lebewohl. Mag es so lange dauern, wie es will, allein, welche unangenehmen Tage stehen mir bevor? – Wie war Vater schon vorige Tage, als ich [L. Beheimer?] ein Körbchen gab so böse, so böse wie nachts mit Reinhard. Von erster Liebe kann bei mir keine Rede sein; ich liebe nicht. Aus Angst an den Vater mag ich es nicht – nur ich muss gehorsam sein. So viele Sorgen wie ihm Thereschen macht, will ich nicht ihm machen. Ich denke oft tagelang nicht an Gustav. Die viele Arbeit mag es tun. Ich bin oft traurig darüber, und besonders wenn Reinhard kommt, warum soll ich nicht freundlich sein. Dass er mich liebhat, hat er mir gewiss schon zehnmal gesagt; kann ich dafür, ich habe ihn nicht lieb und möchte nicht hier begraben sein. Auch passt er nicht für mich; er mag sich ein Bauernmädchen nehmen wie August Jesse. Nur so falsch sein kann niemand wie die. Hat dem Vater die Ohren voll gesungen, und wenn sie wüsste, wie wenig Interesse ich für ihn habe; seine Schwestern sind so ängstlich;

Seite 42:

wie irrt ihr euch, ihr Lieben, denkt nicht daran. Grau ist ein anderer Mensch und Reinhard reicht ihm nicht das Wasser. – Wie engstirnig ist doch August. Wieviel habe ich erlebt in dieser kurzen Zeit. – Wäre es möglich, dass August einer Frau so den Hof macht und meine Tante ist, die Schluss macht, leicht. Wie sind doch die Menschen zu bedauern. So ist Auguste sehr recht geschehen, warum hat sie die Verlobung mit August nicht öffentlich gemacht, dass er es ihr jetzt so unrecht antut, als ob er Auguste nur als Cousine kennt; es bleibt immer bei Cousine und macht alles mit; alle Feste, alle schöne Frauen, den Hof, und ist sie so hässlich wie die Nacht, und die arme Braut bleibt zurück. –  Die Tante ist einige Wochen fort, und August und Mutter begleiten sie bis Kassel – es ist schrecklich. Denke ich an den Korinthen Carl solange ich August sehe, denke ich daran. – Seit einigen Tagen ist Onkel Karl mit Minni hier (Tochter Minna Jesse, Melsungen). – Wir haben das Lippstädter Schützenfest mitgemacht. „Kusenbänker“ bei Egge, ein alter Bekannter von Minni

Seite 43:

an Lukas machten recht ihre Sprünge. Doch wenn ich wieder an mich denke, muss ich doch lachen. Es war doch nicht recht von mir, dass ich es so ausgesprochen hatte, ihm sagte, ich sei verlobt, dieses ist nun schon der vierte, den ich abweise. Denke mir, die meisten von einmal sagen, sei man so vernarrt, dass man gleich „ja“ sagen könne. August wusste gewiss darum und wie war Reinhard so verdrießlich und eifersüchtig. Es macht mir Spaß, denke ich daran, besonders deswegen (?] am anderen Morgen kam und fragte nach meinem Befinden. Ich hatte das nicht erwartet. Das Lippstädter Schützenfest hat also auch Erlebnisse.

Westernkotten, den 4. Oktober 1855

Wer hat dem Vater nur von Grau erzählt, wieviel Ärger habe ich gehabt. Schon zwölf Wochen hörte ich von Schmalkalden nichts, und gestern schrieb mir Grau, dass er sechs Briefe geschrieben und unglücklich sei, keine Nachricht von mir zu haben. Wie geht dieses zu, hat sie Vater behalten?

Seite 44:

Ich bin jetzt in Gewissheit, warum will er jetzt so streng mit mir sein. Es ist unrecht vom Vater, die Mutter tut mir leid, dass sie meinethalben so Ärger hat. Ich will gar nicht mehr daran denken; und dir, liebes Tagebuch, die Ohren vollschreiben. Es gib wieder etwas Erlebtes für dich, welche ich lange gedacht, aber sehr wehe tut es mir, dass ich Heinrich habe sagen müssen, ich sei Braut. Es wurde mir schwer, und welch großes Unrecht ist es von mir, dass ich nicht zu Ostern, als er bei uns war, und mich nach Grau fragte, ihn nicht merken ließ, dass ich Gustavs Braut sei. Wieviel Herzeleid habe ich ihm jetzt gebracht. Keine seiner Tränen, seine Aufregung werde ich solange ich lebe nicht vergessen, wie muss er mich doch so liebhaben. Er hat immer geglaubt, Reinhard sei sein Nebenbuhler und wenn er wüsste wie mir Reinhard so gleichgültig ist und immer gewesen ist, er ist nur Vetter. Sollte das also wahr sein, dass er meinethalben nur Theologie studiere, weil ich in der Schule geäußert habe, am liebsten möge ich die Pastöre leiden. Ich glaube es ihm, er hat mich nie belogen. Ich fühle tief das Unrecht,

Seite 45:

dass ich nicht schon lange als er mir sagte, dass er, wenn er mich sähe, nur ruhig und glücklich sei. Der Brief vom Geburtstag, deutet er nicht darauf hin, dass er mich unendlich liebhaben muss? Was sagte der Vater, als ich ihm den Brief geben musste, er war sogar sehr erfreut und Heinrich sei nur sein Geschmack, und es sei schade, dass noch keine Frau „brauten“ könne, sonst solle ich ihn nur haben. Ich habe nicht einmal gedankt für den Brief und das schöne Geschenk. Wie ein Kind habe ich ihn behandelt. Als ob ich alles dürfe, und mir niemand es übelnehmen könne.

Westernkotten, den 24. Oktober 1855

Ich möchte es vergessen, was ich genau dir erzählen möchte. Gestern war Heinrich bei uns, und wir spielten Mozarts Variationen, welche wir heute Abend im Casino zu Erwitte vortragen wollten. Heinrich war sehr still, warum? Ich auch – in meiner peinlichen Lage. Morgen wird er wieder nach Halle reisen. Er glaubt, er könne mir nicht böse werden, da er diese Nacht von mir wunderschön geträumt habe. – Ich würde Grau nie bekommen. Ich habe auf einer Höhe gestanden in Trauerkleidern.

Seite 46:

Grau sei gestorben, unten habe er gestanden und ihn beerdigt, darauf sei ich ein „Fugel“-Vogel geworden und er habe mich nicht beerdigen können. Nun sei ich wieder im weißen Kleide aus dem Grabe gekommen, ich hätte wunderschön ausgesehen und die weiße Rose, die ich auf dem Ball in den Haaren hatte, hätte ich ihm geschenkt. – Doch Träume sind Schäume. Es tut mir leid, dass er fortgeht. Mein Klavier wird Ruhe haben, denn ich kann allein nicht so spielen und meine Lieder auch. Schade, dass Grau nicht musikalisch ist, es ist doch das halbe Leben, und der Mann kann der Frau auch etwas vorspielen.

Westernkotten, den 3. April 1856

Immer noch habe ich mit dem Vater zu kämpfen, wie traurig ist dieser. Ich habe mir vorgenommen, Grau nicht mehr zu schreiben, und doch bittet er mich so in dem Briefe und flehet, – was soll ich tun. Emma macht mir Vorwürfe, ich habe Gustav auf dem Gewissen, dass ich ihn so behandle. –  Was soll ich tun? Heute habe ich ihm mal wieder geschrieben. –

Seite 47:

Bei uns ist alles zerstört. Vater hat wieder mal Unglück gehabt, ich muss immer darunter leiden. Es sind wieder zwei Reisende rangiert in der schönen Scheune und dem Schloss. Und Vater hat schreckliche Sorgen. Thereschen ist wieder nach Lippstadt gezogen, und Vater macht sich schrecklich viele Sorgen. Adelheidchen (Schwester) wurde konfirmiert.

Westernkotten, August 1856 (20 Jahre)

Meine Sorgen kommen immer. Es ist eigentlich angenehm und unangenehm für mich. Wie necken mich meine Freundinnen, besonders Groos‘ Mädchen, dass ich bald das Vergnügen haben würde, eine kleine Stimme zu vernehmen. Ich darf Mutter nicht schief ansehen, so kann ich Ohrfeigen erwarten, da sie glaubt, es sei mir unangenehm. Sie bildet sich es ein, es ist mir nicht recht, wenn Reinhard oder Robert da ist, die immer mich so ansehen und ich dann unwillkürlich rot werde. Ich wünschte, die Zeit wäre erst vorbei.

Heute ist der 12. September 1856.

Nun ist ein kleines Schwesterchen geboren.

Seite 48:

Wie erfreut bin ich, denkt sich die Mutter nicht. Dir, liebes Tagebuch, darf ich es sagen, du hörst mein Leid und Freud. – Gott sei Dank, dass wir noch die Mutter behalten haben. Dass Auguste Jesse mir so treu zur Seite steht, und wie hat mich Vater lieb, dass er mich besonders [vor) den Kindern so liebt; ich habe mir gedacht, dass ich bei ihm in einem solchen Luste steh, das macht aber, dass ich so freudig bin über dieses Ereignis. Was wird Grau sagen, ich muss es ihm gleich morgen mitteilen. Jetzt bin ich Hausfrau und muss ich recht meine Mutter vertreten, dass Mutter keine Klagen hört.  – Welch ein schönes Kind ist dieses kleine Mädchen. Wie vergnügt ist Vater. Wie hat er doch die Mutter so lieb. Ich hatte den Vater noch nie weinen sehen, wie schrecklich sah das aus. Das Herz tat mir weh und doch musste ich tun als ob ich es nicht sähe.

Dezember 1856

Wie schrecklich, Reinhard hat einige Menschen filzen müssen. – Warum sagt er nicht einmal dem Vater dies, sie sind sonst so vertraut. –

Seite 49:

Mein kleines Schwesterchen heißt Anna und ist unsere Freude im Hause. – Wir waren zur Hochzeit in Horn und hatten viel Pläsier.

Im Mai 1857

So habe ich heute den deutlichen Brief von Gustav als Braut. Wie froh bin ich, dass doch endlich unsere Eltern die Verlobung billigen. Nun kann ich doch glücklich sein. Der Vater hat Grau schrecklich lieb, und alle Welt liebt den schönen Mann. – Ich bin es auch aber, aber wie sehen mich Gustavs Augen so traurig an, und sieht er so blass aus? Vor Angst mag ich nicht daran denken, er hat so schöne blaue Augen. – Dieses kleine Ereignis möchte ich dir erzählen. Die vergangene Woche hatten wir große Wäsche. Reinhard, der mich immer aufs Neue mit seiner Liebe quält und zuletzt, wo ich dem endlich sage, ich sei ja längst verliebt, will aus Ärger alles dem Vater erzählen. Ich schreibe dieses direkt an Grau und bitte ihn, dringend zu kommen. Vater, der sonst gegen Reinhard ist, ist jetzt von

Seite 50:

ihm eingenommen – nur was mag das sein? Vater kommt also zu mir und sagt, es habe ein junger Mann bei ihn um meine Hand gebeten. Aber wir Frauensleute können das Schwätzen nicht lassen, sonst wolle er es mir sagen, wer mag das sein? Bis Himmelfahrt wolle er mir Bedenkzeit geben. Ich will Vetter Reinhard Kniffe stecken dabei, sonst wolle er mir das kleine Stübchen zurecht machen lassen, wo ich als Jungfer „versauern“ solle. Es ist niemand als R. gewesen. Doch weiter, ich denke Grau käme nicht, und doch wusste ich, dass er kommen musste. – Ich vergesse es nie. Ich saß unter der Kegelbahn und schälte Spargel. Es war Himmelfahrt, wunderschön sang eine Nachtigall in der Trauerweide nebenan. Wie waren meine Gefühle? – So eine peinliche Lage habe ich nie gehabt. Ich saß so in Gedanken, ich wusste nie, wie mir war, wie sollte ich es machen. Ich sollte Vater heute Antwort geben, ich wollte nicht zur Kirche. Vater ging allein nach Lippstadt, war zu spät gekommen und ging von der Kirche zum Bahnhof, um wie gewöhnlich ein Seidel Bier zu trinken; dort trifft er Grau,

Seite 51:

der zu mir will. Sie gehen stumm nebeneinander, bis unser Wagen sie einholt, wo sie dann wieder etwas erzählen.

Ich saß wartend im Garten, schrecklich aufgeregt, ahnte nicht, dass Grau mit im Wagen sei, und Reinhard? – Kam wie sonst nur des sonntags zu uns, staunte als er mich dasitzen sah. Sprach keine Silbe mit mir, ich bebte fast, diese Angst werde ich nie vergessen. Ich hörte den Wagen rollen, es war der Vater. G. Grau, wusste ich nun sicher, hatte meinen Brief bekommen. Der Tag sollte entscheiden, was sollte ich Vater sagen. Doch es kam anders. Reinhard stand auf und rief erfreut, der Onkel ist schon da, hat aber einen Herrn bei sich. Indem kam Vater auf mich zu und meinte, ob die Kopfschmerzen wieder fort seien. Er hab meinen alten Bekannten, Herrn Grau, aufgegabelt, ich solle heimgehen und ihm ein Frühstück machen, da Mutter mit der Anna zu tun habe und Sophie zur Kirche sei. Als Reinhard den Namen hörte, wurde er leichenblass, fasste Vater an

Seite 52:

die Hand und sagte fast wütend: „Ich schwöre, Onkel, sie kriegt ihn doch nicht!“ Und ging darauf hinten durch das Tor. Dieser Tag wird mir stets vor Augen stehen.

Juni 1857 (Ich wurde gestört)

Ich ging ins Haus, Grau begegnete mir in der Tür, war er es oder nicht? O Gott, wie verändert sah er aus, wie ein Leichengesicht, oder hat er sich erschrocken. Ich kannte ihn erst nicht, ich ging darauf direkt in die Stube und dort konnte ich ungestört ihn eine Minute begrüßen. – Grau war fürchterlich aufgeregt, er sprach kein Wort. Der schöne Himmelfahrtstag war bald zu Ende und noch immer hatten wir keine Gelegenheit Vater allein zu sprechen. Es war der 21. Mai, ich war schon fünf Uhr aufgestanden, um alles zu ordnen. Es begegneten mir im Garten viele Leute, die schon gebadet hatten. Wir tranken unter der Kegelbahn Kaffee. Nach dem Kaffee gingen wir ins Haus, ich hatte viel mit der Küche zu schaffen, da noch viele hier sind, die den Mittagstisch haben

Seite 53: fehlt [wieder die Einfügung einer Kopie einer Urschrift-Seite. WM]

Seite 54:

Grau holte mich aus der Küche zum Vater und Mutter und dann sah ich erst recht, wie die Eltern so glücklich sein können. Nie vergesse ich, wie Gustav so schön sprach, und wie er mich so liebt. Die Worte alle möchte ich aufschreiben, doch ich habe keine Zeit, für heute: nur kurz. – Am Abend wurde die Familie eingeladen, und Reinhard kam auch mit, wie schrecklich dies war. – Sie wurden Freunde, und Reinhard meinte in seinem kleinen Rausch, er möge mich doch lieber leiden, aber ich sei doch nicht verloren. Er lobte mich sehr beim Gustav und dieser war überglücklich. So habe ich denn nun hier meine Besuche gemacht mit meinem G. Bräutigam und stehe heute wieder so allein wie ehe, nur mit dem Unterschied, dass ich mit meinen Eltern sprechen darf. Ich bin fleißig daran, die Aussteuer zu nähen, da Gustav schon Ostern denkt mich zu holen; das ist noch eine kleine Zeit, wie rasch wird sie dahingehen und wie freue ich mich auf meinen Haushalt.

Den 10. Oktober 1857

Morgen reise ich nach Melsungen.

Seite 55:

Gustavs Vater ist am Dienstag gestorben. Wie traurig schreibt Grau darüber. Gestern feierte Dr. Bredenoll sein 50. Jubiläum, und wir waren alle zum Abendessen da. Heute ist Partie zur Wewelsburg bei Büren [?]. Ich kann nicht mit, da ich meine Sachen fertig machen muss. Du, liebes Buch, bleibst hier.

                                                                               Westernkotten, Dezember 1858 (22 Jahre)

Ich hatte den Mut nicht, dich anzusehen. Ich darf nicht die letzten Zeilen lesen, die ich schrieb, wo ich dich verließ. Wieviel, o wieviel habe ich erlebt. Wie verlassen bin ich jetzt. Soll ich dir alles erzählen, dir mitteilen, wie unglücklich ich bin. Ich will es versuchen, nur etwas.

Der Vater starb am 8. Dezember und Gustav den 14. Januar. O, ich bin hart geworden, ich kann nicht mehr weinen. Der Abschied von Grau, der Tod des Vaters, nur Tag und Nacht denke ich daran. Ich bin aber etwas wieder gesund, ich fühle mich wohler; und nur meine verlassene Mutter mit den armen Kindern so ohne Trost ohne Hilfe. –

Seite 56:

Ich war einige Tage in Melsungen, als ich selbst die Ruhr bekam. Der selige Gustav war sehr besorgt. Es kamen Briefe von Mutter, Vater sei so krank. Ich durfte nicht reisen, da Gustav einen Rückfall befürchtete. Wie lieb hat mich Grau gehabt. Welche Vorwürfe muss ich mir machen, dass ich nur so kalt, so hart war, so herzlos. – Jetzt sehe ich ein, dass ich ihn liebhatte. Und nun niemals, niemals will ich einen jungen Mann lieben, das kann ich nicht. Ich war zu jung; und doch glaubte ich, meine wahre Liebe müsste noch kommen. Damit genug, es ist keine Liebe, nur Leiden hat der Mensch. Es ist dieses Leben eine Vorschule, um sich vorzubereiten auf die Ewigkeit, ich führe meinen Vorsatz aus und will mit der Welt brechen, nur meine Pflichten muss ich erfüllen, mein Wort halten. Es gilt hier, gehe ich, so werden meine Geschwister katholisch. Aber ich meinem Vater auf dem Totenbette versprochen auszuhalten bei der Mutter bis aufs Äußerste, für meine Geschwister zu sorgen und eine Mutter – mein Wort muss ich halten.

Seite 57: fehlt [Kopie einer Originalseite dazwischen]

Seite 58:

1859

Ich bin stets traurig, ich kann mich gar in den Tod des Gustavs nicht finden. Ich glaubte, wo der Vater starb, ich sei noch nicht verlassen, aber ich bin es. Vier Wochen saß ich am Krankenbett und musste stündlich erwarten, dass mir das Liebste genommen wurde, das ich noch besaß. Es war der 14. Januar, ½ 10 Uhr, als Gustav mich so groß ansah und mich rief und dann mich bat, ich solle ihm helfen, er müsse sterben. O Gott, hilf mir, diese Stunde zu vergessen, sie macht meine Gedanken wirr. Die Mutter Gustavs sah ich einige Tage später an meinem Bette sitzen, ein „persisches“ Fieber hatte ich und wusste nicht, dass Grau längst Erde trug. Ich will versuchen, nun für dich, mein liebes Buch oder wer mein Buch lesen mag, wenn ich auch tot bin, dir diese lange Trauerzeit meines Lebens noch zu schildern. Mein Leben wird jetzt eine Trauer sein, bis ich jetzt sterbe. Wenn so alles, alles stirbt, und man so allein übrigbleibt. Wenn die Verhältnisse sinken, dann wünscht man auch den Tod herbei, und so auch heute, keine Freude habe ich mehr.

Seite 59:

L. Grau war einige Tage bei uns, auch Adolf mit seiner Braut. – So angenehm ist mir ihr Besuch, und doch tröstet er mich nicht. Ich war einige Wochen in Arnsberg, um mich zu zerstreuen, aber mein Gemüt wird nicht anders. Ich bin oft so angegriffen, mein Kopf so schwer, dass ich oft befürchte, ernstlich krank zu werden.

1859, im November

Es ist heute ein sonderbarer Tag für mich. Der Jugendfreund scheint mich stets noch zu lieben, und wie ist mir dieses zuwider. Ich habe ihm gesagt, wenn er Pastor sei, solle er mal wieder kommen, wie kann ich ihn lieben? (Nein, mein Herz, du hast genug gelitten). Wie will ich heiraten, doch warum gebe ich Heinrich Hoffnung, es geschieht ihm recht, er muss mich nicht hindern, denkt er, dass ich so leichtsinnig sei und noch ewig Jahre lange Liebschaft mit ihm zu knüpfen, doch er täuscht sich; warum bin ich so böse auf ihn, ich sollte ihn auch lieben, nein – mein Herz, du hast genug gelitten, und jetzt sollen diese Gedanken mich nicht stören. Es heißt wir schaffen und wirken,

Seite 60:

damit meine Geschwister leben können. Halte dein Versprechen, tue deine Pflicht. Was du bist, sei es ganz und in den kleinsten Sachen. Meine arme Mutter bedarf der Stütze, bin ich fort, dann hat sie niemand. Sie kann sich nicht in den Tod des Vaters schicken: Kind? Franz hat Hochzeit gehabt, welch ein Unsinn?? [Halbbruder *12.8.1829 Erwitte, ∞11.10.1859 Erwitte].

1860

Auguste (*20.09.1845) wird konfirmiert. Dank Gott, dass wir so weit sind. Es hat Heinrich und mir die größte Mühe gekostet. Warum hat Mutter nicht mehr Stütze von Reinhard? Erst versprach er alles, und nun zieht er sich zurück; glaubt er, da Vater tot sei habe er nicht mehr recht und spricht sich sogar über den Tod Graus so sonderbar aus, denkt er, ich könne ihn leiden? O, er ist mir, seitdem er mit Mutter über unsere Religion gesprochen, deutlich verhasst.

den 24. Mai

nachdem Auguste konfirmiert ist, sind mir die Menschen zuwider, auch unsere Verwandten. Ich bin die verdammte Ausgestoßene.

Seite 61:

Ein Unglück verfolgt das andere, nun will man alles verkaufen. Doch nur zu, dass wir Ruhe haben, ich will wohl fertig werden, aber meine Mutter. Auguste kommt nun fort, Lilli ist auch fort. Ich war einige Tage bei Emilie in Lippstadt, um etwas mich zu erholen. Ich bin recht angegriffen, dass ich fast ohnmächtig bin.

Melsungen, den 4. Juni 1860

Ich komme vom Grabe Gustavs und habe Blumen und Tränen zurückgelassen. O, wenn er mich so sähe, wie arm ich jetzt, wie verlassen ich bin. Alle Welt um mich ist vergnügt; ich denke an das Haus der Mutter, die Geschwister. Was sie für Stütze bedürfen, wie ist meine Zukunft. Gustavs Mutter wünscht, ich soll hierbleiben, kann ich, darf ich das? Soll ich Mutter verlassen? Nein, ich will aushalten mit ihr; es sollte so sein, ich will Mutter Stütze sein. Es ist mein Beruf und der muss mich beruhigen, der soll mich stärken. Ich war in Rothenburg bei Waldbrand; ich kann nirgends vergnügt sein. Es ist mir als fehle mir überall was.

Seite 62:

Die Welt, das Leben ist mit tot. Gestern war eine Partie auf dem Lindenbaumhaus, hat sie mich erfreut. Fremde Menschen, wie war es ehedem hier, o, welch eine Veränderung: Emma tot, Gustav tot, und ich allein stehe hier.

August 1860 = 24 Jahre

Was ich heute schreibe, weiß ich selbst nicht. – Der schöne Pater, nennt man ihn, hat unsere Sache in den Händen, warum gerade er. Habe ich ihn doch nie leiden können, und muss ich denn nach Jahren selbst einen Brief finden wo ich denn wirklich sehe, dass er ernstliche Absichten hat. Warum war Vater immer so heimlich damit, glaubt er ich würde es aller Welt erzählen? Ich habe es lange gemerkt; auch hat er ja zu Adelheid „unfair“ geäußert, es ist mir doppelt lieb, dass ich es weiß, damit ich mich danach richten kann. Es ist mir sehr unangenehm. Wie kann ein Mann noch daran denken? Er muss wenig Zartgefühl haben, sonst verwertet man alte Geschichten nicht mehr. Doch er glaubte, Adelheid wisse es, dass er mich mal gerngehabt hätte.

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Dir liebes Tagebuch, erzähle ich ja meine kleinsten Geheimnisse; sollte ich es nicht, ich habe es mir gelobt, und so will ich treu Wort halten.

Den 14. Februar 1861

Mein Leben ist selbst ein Traum, zuletzt als ich schrieb, hatte ich noch eine Heimat und nun ist alles fort. Bin ich schuld daran? Mutter sagt es mir täglich 100-mal, ich sei allein die Schuld; ich habe sie beredet. O, wie dieses mir Kummer macht. Doch ich weiß es, Gott weiß es, dass es nicht anders ging, als es musste sich irgendeiner über uns erbarmen, oder sollte ich von der Gnade eines Menschen abhängen, sollte ich katholisch werden und dann Reinhard heiraten, welche Idee? Ich schäme mich, dass ich sage, ich bin ja schon seit fünf Monaten wieder verlobt. – Wie mir zumute ist, will ich heute nicht schildern. Das Herz will mir springen bei dem Gedanken an allem erlebten. Ich habe mich verlobt, das lautet schön! Bin ich glücklich? Nein! Ich bin überredet, doch ich bin ja alt genug selbst dieses einzusehen. Ich kam nach Bochum, um Bergmanns Frau zu pflegen, die in Wochen war, und als ich abreiste

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machte mir Neuhaus einen Heiratsantrag. – Ich erzählte Mutter alles, und natürlich es wäre unrecht von dir, wenn du es nicht annehmest, du bist so alt, darfst auf Liebe nicht zählen, es soll ein anständiger junger Mann sein, der eine Frau ernähren kann. Du tust deiner Familie einen großen Gefallen; bist du erst versorgt, dann wird alles andere besser. Auf Hohrlahe [?] darfst du nicht gehen, der ist schwindsüchtig und nach deiner Aussage hast du auch den nicht lieb, also bleibt es sich gleich, wenn du nur eine anständige Versorgung hast. So waren die Worte der Mutter, und ich muss ein Opfer bringen, musste mich samt dem Hause verkaufen lassen und habe Neuhaus noch nicht mal als Bräutigam begrüßt.

Diese, liebes Buch, ist mein Geheimnis, welches H. Bergmann der Familie Jesse [7] erzählt hat. Ich freue mich, dass ich Westernkotten hinter mir habe, und wenn ich auch hier viel mehr arbeiten muss, verschont man doch die Mutter mit allerlei Geschichten und ist darum doch Ruhe im Haus. Ich habe „A“ gesagt

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und sage nun „B“. – Mutter glaubt, es sei ein Glück, dass Adelheid und ich verlobt seien. Ich glaube es selbst, aber ich leide nur zu sehr darunter und kann die Briefe, die sonst so leicht zu schreiben sind, nicht anfangen. Das ist nichts Schönes und ich fühle mich höchst unglücklich in meinem Brautstand.

Ich komme von Uerdingen, es ist der 4. April 1861. Franz und seine Frau leben nicht vergnügt, sie macht zu große Ansprüche. Doch von mir sollte ich sprechen!

Jetzt heißt es anzufangen, etwas zu verdienen. Ich habe schon einige Klavierschüler und bald wird es besser, um nur das tägliche Brot zu haben, wie schrecklich! –

Den Dezember 1861 (25 Jahre)

Ich feiere diesen Christtag sehr traurig, so traurig wie nie. Wir haben eine andere Wohnung beziehen müssen, weil die Mutter zu „schwach“ ist. Wie bin ich heute so schrecklich angegriffen. Seit drei Nächten bin ich nicht zu Bett gewesen. Emma ist die einzige Freundin, die mich noch ans Leben erinnert, ich vergesse mich selbst.

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Die Sorgen lassen mich alles, alles vergessen. Ich muss ja für alles Gott danken, auch dafür, dass er mir noch meinen Verstand lässt. Gott stärkt mich, lässt mich keinen Schlaf, Hunger und Durst fühlen. Ich nähe jetzt Tag und Nacht für mich und meine Geschwister. Adelheid ist nicht mehr hier, nur das arme Mädchen wurde in der Liebe „getuppt“ [= getäuscht]. Wie ist es mir? Ach, ich mag an nichts denken. Ich möchte so gern nicht mehr leben. Ich bin so unglücklich, so arm zu sein und es andere nicht merken zu lassen. Die Mutter so verdrießlich, und die muss ich auch noch aufheitern, damit sie mir nicht den Mut verliert. Gebe Gott, dass es bald anders wird. Käme doch ein Lichtstrahl von Glück in unsere Wohnung, damit ich nicht ganz und gar den Mut zum Leben verliere.

Den 24. Februar 1861

Beinahe wäre es um mein Leben geschehen. Frau Smieth [?] hatte aus Versehen den Tee in der Kanne stehen gelassen, und es hatte sich Grünspan angesetzt. Wir trinken davon, und als ich nach Hause komme, fühle ich, dass ich ganz unwohl werde und habe schrecklich Erbrechen gehabt und Leibschmerzen.

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Heute bin ich soweit, dass ich etwas ausgehen kann und will ich mit Emma etwas spazieren gehen, sie wird gleich kommen und mich abholen. Es ist schon lange Zeit her und immer wird mein Leben kein besseres. Mit meinen Stunden bin ich recht zufrieden, die Kinder machen gute Fortschritte, und ich hoffe mit der Zeit, tüchtig was zu verdienen. Damit ich nicht so viele Sorgen mehr habe. – Es geht jetzt wieder in den Winter. Ernst wird konfirmiert und alle Sorgen häufen sich. Mit Mutter lässt sich nicht sprechen, sie ist stets aufgeregt. Doch ich bin es gewohnt und lasse sie ruhig sprechen. Was mich immer noch drückt, ist mein eigenes Verhältnis. Mutter von Gustav war einige Tage hier und hat deshalb mich viel aufgerichtet. Warum soll ich über und gegen meine Gefühle zu Neuhaus freundlich sein. Ich kann es nicht, ich kann nicht falsch sein. Sobald wir verheiratet sind, werde ich schon so sein, wie ich als Hausfrau sein muss, ihm im Stillen beistehen, aber lieben kann ich ihn nicht, und ist er damit nicht zufrieden,

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so wusste er es gleich wie meine Neigung war, und ist es immer noch früh genug. Die Welt hat doch stets ihren Leumund dazwischen und hat mir Emma gestern wieder den klarsten Beweis geliefert. – Ich war in Westernkotten, nur auch da höre ich von Herrn Bergmann schöne Sachen, die mein Innerstes empören. Nie, nie ist mir so etwas vorgekommen, schrecklich wie die Menschen über andere urteilen; erst ist er für Neuhaus und nun wird er verleumdet. Doch hätte ich ihn lieb, nichts würde mich abhalten meinem Vorsatz treu zu bleiben, aber so werde ich leicht schwankend.

Den August 1862 (26 Jahre)

Viele wichtige Tage hat dieser Monat. Heute ist der 10. August und der Geburtstag von Grau. Ich war seit langer Zeit nicht so ruhig wie heute. Meine Verlobung mit Neuhaus ist zurück. –

Gott sei Dank, ich bin frei und danke dem Schöpfer, dass es so gekommen ist. Meine Zukunft wird nun traurig sein, aber der Mensch denkt und Gott lenkt.

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Ich darf den Mut nicht verlieren, es gibt noch immer gute Menschen, ich muss nur Gott vor Augen haben, vieles habe ich zu leiden, viele zu kämpfen, und namentlich bereite ich mir selbst meine Tage. Emma war gestern Abend bei uns, sie hat mich in allem getröstet, sie war immer meine liebste Freundin, und immer möchte ich so werden wie sie ist. – Ich war in Westernkotten zum Konzert, hatte es nicht vor, war nach Erwitte gegangen, um Pastor Manger predigen zu hören. Groos baten mich sehr mit hinzugehen. Es war mir schrecklich zu dem Hause zu gehen, wo ich erzogen und geboren war und das mir jetzt fremd für immer sein soll. Ziel (?) traf ich auch da, wo ich nach Hause ging, gingen wir zusammen, und wie schrecklich hat er mit mir gesprochen. – Er muss sehr offen sein, sonst konnte er mir so etwas nicht sagen. Wäre es jemand anders gewesen, der es mir sagte, gewiss, ich würde anders gesprochen haben. Er hat mich von einem großen Abgrund zurückgehalten, und ich will ihn als meinen besten und treuesten Freund bezeichnen, er hat mich

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zwar sehr beleidigt, was geht mich Brülle an, dieser Mensch, ich bin mir nichts Böses bewusst, der mag schlecht sein, ich habe keine Beweise davon. Er hat sich für mich sehr interessiert, das ist alles. Ich habe alles nicht merken wollen und bin ihm immer ernst und ruhig entgegengekommen, wie er mir auch. Die Menschen sind böse, der Leumund ist groß. Dieser Abend wird mir ewig unvergesslich sein, wie mir Ziel dieses erzählt. Seit dem Tage bin ich allen Menschen böse, dass sie mich so unschuldig verwunden; wie ist dieses zu böse. Emma beruhigt mich und sagt mir, dass nur mit Achtung von mir gesprochen sei. O, wie schrecklich unglücklich macht mich dieses und doch bin ich Ziel dankbar, dass er mich auf vieles aufmerksam macht, wo ich ohne Argwohn vielleicht hätte viel leiden müssen.

Lippstadt, Dezember 1862

Karl ist verreist und der liebe schöne Christtag ist wieder da, und vieles geht mir durch den Kopf. Oft ist mir, als habe ich geträumt, und dann wieder als wache ich. Mein Verhältnis zu meinem Vetter ist ein tiefes, mir inniges. Meine Liebe zu ihm eine wahre Neigung.

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Früher habe ich oft gezweifelt, ich habe mich geprüft. Ich glaubte, ich könne nicht mehr lieben. Ich wollte mir diesen Gedanken verwischen, wollte gleich meine Neigung zu ihm schon in der ersten Zeit verdrängen. Doch ich sehe ihn fast täglich, und immer wird er mir lieber und ist mir so wert und teuer, dass ich mich glücklich schätze, ein solchen Freund zu haben. Doch Freund, sage ich, das ist für mich zu wenig, noch ein wenig glücklich; wie wollte ich jetzt glücklich ein, wüsste ich, dass er mich liebte. Sein Interesse an meinem Wohl ist ein großes. – Wie gut und freundlich ist er gegen mich; wie ist es mir so öde, ist er nicht da. Ich wüsste nicht, dass ich auch für den seligen Gustav je so eingenommen wäre. Der hat mich immer auf den Händen getragen und ich konnte so ungezogen sein.

Die Ostertage sind vorüber. – Karl kommt täglich zu uns. Mutter und Adelheid wissen beide von meiner Liebe zu ihm; oft, oft werde ich verlacht von ihnen und selbst kann ich mir nicht merken lassen, dass ich nur Karl so liebe, der oft so eigen und rätselhaft ist.

Seite 72:

Wie zweideutig spricht er oft, und doch weiß ich ja, dass er mich gernhat. Warum musste er zu Adelheid sagen, dass ich zu hingebend sei, ich bin so freilich, bin ich sonst so gewesen? Nie, ich war ja nur so unfreundlich, dass ich mir jetzt nur Vorwürfe mache. – Darf ich so mit Karl sein? Ich habe viel Verdruss mit Adelheid.

Lippstadt, den 14. Juli 1863 (27 Jahre)

Gestern war mein Geburtstag. Vorgestern das hiesige Turnfest. Karl ist heute Morgen abgereist und ich werde ihn drei Wochen nicht mehr sehen, wie lange wird mir die Zeit werden? Wie ist mein Geburtstag doch so traurig gefeiert. Karl scheint sich daraus nichts zu machen, und wie schön ist es doch, wenn man sieht, dass andere aufmerksam sind, namentlich die, welche man gernhat. –

Warum hat Adelheid so wenig Zutrauen zu Karl, warum spricht sie immer gegen ihn. Es tut mir jedes Mal das Herz weh, wenn ich dieses höre, und will sie nicht immer damit kränken; es ist unrecht von ihr, und doch ich muss dann schweigen. Auch sie weiß ja nicht, wie nah wir uns stehen, sie weiß ja nicht,

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wie gut es ist, und wie gerne er mich hat? Oft denke ich lange über sein Benehmen nach, und immer siegt meine Liebe zu ihm. Ich denke nur das Beste und Schönste von ihm, wie aber denkt er von mir? – O, Gott, dieses macht mir oft das Herz schwer. Denkt er am Ende, dass ich so verlassen wäre, hätte ich nun Niemand wie ihn. Was würde die Welt sagen, wenn sie wüsste, wie lieb ich Karl hätte. Wie würden gleich alle über mich herfallen, wenn der Eine dies und der Andere das wisse. Aber sollte ich eher sterben und Karl sich meiner Mutter noch nicht erklärt haben, dass er uns auch liebt, so nehme ich dieses Geheimnis mit ins Grab und Karl und du, liebes Buch, wisst es. Ich glaube, ich habe nie so heiß und wahr geliebt wie gerade jetzt. Gott ist mein Zeuge, die Menschen glauben es doch nicht. Ich war nie so glücklich in meiner Liebe. Nie so geduldig und gelassen wie jetzt – für Karl könnte ich alles tun, er füllt meine ganze Seele aus. –

Ich würde nicht so schreiben, hätte ich nicht mein Leben geprüft. Ich habe ja nicht einmal Ursache so zu schreiben, Karl sagt mir ja nicht einmal, dass er mich liebt, er hat mich nur gern

Seite 74:

und doch bin ich zufrieden; oft zwar denke ich, Karl ist so sehr gutmütig, er hat nur mitleiden mit dir, weil du so arm und verlassen bist und du dauerst ihn, oder er will dich prüfen, ob du schlecht bist, und die Welt schon über dich gesprochen. O, ich komme auf ein Thema, wo mir der Kopf schwindelt. Doch ich will ruhig sein und denken, es wird nicht so fein gesponnen, endlich kommt es an die Sonne.

Wie ich heute bin, war ich mein ganzes Leben mit dem Unterschied, dass ich früher nicht zu arbeiten brauchte, um zu leben, sondern das ich lebte, um mich für diese schwere Zeit vorzubereiten, – früher war ich anders, stolz und hartherzig. Nur jetzt – die Zeit hat meinen Charakter geändert; nur das Buch meines Lebens, bist du, Tagebuch, und sobald ich nicht mehr lebe, kann Karl dich bekommen.

[Bleistift schlecht lesbar >]

Lippstadt, den August 1863

Warum ist Mutter so böse von Westernkotten gekommen? Warum hat Auguste Jesse so von Karl gesprochen? Es wird mir nur der Kopf schwer gemacht. Auguste Jesse

Seite 75:

Auguste denkt von allen Menschen nichts Gutes und mein Verhältnis zu Karl kennt sie aber so wenig wie Mutter. Früher war ich so offen und es fällt mir nicht ein jedem zu erzählen, wenn es selbst Mutter ist, wie wir beide stehen. Auguste denkt nur an ihr eigenes Verhältnis und will Mutter nur warnen für Vettern. Es wird freilich viel über mich hergezogen. Alle glauben, ich sei mit Karl verlobt, und einige sogar, wie Adelheid nur oft genug sagt, ich ließe mich zum Narren halten. Alles dieses kränkt mich sehr. Die Welt urteilt zu strenge, und ich mag nicht einmal ausgehen, damit ich niemand zu sprechen brauche.

Lippstadt, den 13. September 1863

Karl will so gerne dieses Buch lesen. Was hat er und das beleidigt mich sehr, und doch soll er es haben. Aus dem Grunde, weil Karl vielleicht glaubt, du liebes Buch, habest Geheimnisse. Nun bin ich den ganzen Nachmittag allein. Karl, den ich so früh erwartet, kam spät und bleibt nur ¾ Stunde hier. So habe ich wie immer allein am Fenster gesessen und über mein Leben, meine Zukunft nachgedacht.

Seite 76:

Ich bin schon zufrieden, wenn ich Karl sehe, und so hoffe ich es auch zu bleiben. Es ist nun wahre Ruhe hier. Adelheid ist bei Thereschen, weil sie noch krank ist, um den Haushalt zu führen. Adelheid ist mir eine liebe Schwester; nur kränkt sie mich zu häufig und spricht von Karl, dass er mich nicht liebhaben könne; sie macht mich oft dadurch ganz wirr. Und möge Gott mir geben, dass er sie bald alle überzeugt, dass er mich liebt, damit man Ruhe hat und nicht mein ganzes Leben wie ein wahrer Roman wird.

[Hier endet das Buch von Doris (? WM]. Es folgen nicht leserliche Bleistifteintragungen, die wohl nur in Fragmenten zu entziffern sind – ich habe es versucht.]

Mittwoch, den 16. September [keine Jahresangabe]

Heute Nacht habe ich fast nicht geschlafen, es ist kaum am Tagen, kurz eingeschlafen will ich diese frühe Morgenstunde dazu benutzen, dir, Buch, einiges ohne Störungen zu enträtseln. Karl war sehr verstimmt, er hat keine Ursache. Adelheid macht nur Scherze mit ihm – aber er glaubt es nicht.

Seite 77:

[Diese Seite ist ein Puzzle-Spiel, so ähnlich könnte es geschrieben sein.]

Aber seid Grau habe ich ja fast keinen Menschen wie ihn, den ich tiefer mag … aber ihn aufgeben … nur er gibt mir wesentlich viel Schuld wie Adelheid. Nur Emma sagt, ich würde verkannt. Sie weiß und sie wusste darüber durch Grau über alle Verhältnisse … musste nur so krank, so jung krank werden … gerecht … das Herz will mir springen … denke ich, wieviel Unrecht mir geschieht … denn ich sagte ihm ins Angesicht: Ich brauche … meiner Neigung auswirkt. Wie schlecht muss ich mich da fühlen … genesen sein, für leichtsinnig werde ich gehalten. Ich möchte von Karl, der an diesem und jenem zweifelt, fortgehen und wieder mich sehen lassen. Auch würgt mich so …, dass ich Mutter liebe, mitarbeiten muss und einfach leben. Ich hoffe jetzt …, dass dieser es sagt und was auch wird, meinen Jammer vergesse ich nie, und werde nie glücklich sein können, wenn meine Geschwister ganz schlecht? Weiterleben müssen?

Seite 78:

[Das Tagebuch, die losen Blätter, sind am Ende. (16. September 1863)]

Die „unendliche Geschichte“ geht weiter. Die nächste Dokumentation ist ein Brief, den Obersteuerinspektor Daniel Ziel am 18. Juni 1866 an den Wehrmann Carl Ziel nach Köln schreibt. Wie lange er dort oder woanders als Soldat dient, ist unbekannt.

Louisa selbst gibt ihren Hochzeitstag in der Jakobikirche zu Lippstadt am

∞22. Februar 1867 an, eine zweite Quelle

∞24. Februar 1867 Witten (auch kirchlich)

Wo sie mit ihrem Mann Carl eine Drogerie in der Breitestraße betreibt.

Tochter Louise wird dort am 29. September 1868 geboren, Sohn Karl am 9. Januar 1871.

[Die folgenden Seiten waren den Kopien von Frau Oberhomburg angefügt. Ein Brief von „Dein Vater Ziel“ an Lieber Carl“. WM]

Minden, den 18. Juni 1866

Lieber Carl!

Dein Schreiben vom 1. des Monats erhielt ich am 10. und gebe dir und deswegen erst heute Nachricht von uns, weil ich dir gerne mitteilen wollte

  1. wo Adolf sich befindet. Am 15ten abends 10 Uhr erhielten wir von demselben dank eines über den Munitionshof [?] gekommenen Dieners die Nachricht, dass er da selbst schon angekommen sei im Regiment, für die Truppen in Empfang zu nehmen, aber keine Zeit habe zu uns zu kommen, in dem des nachts
  2. der Marsch weiterginge. Mit den Kindern ging ich gleich hin, erfuhr dann auch, dass in der Nacht von da bis Schlüsselburg gingen wo lagen Truppen der 13. Division in das Hannoversche eingerückt, würde ein Wagen der 16 kommen [?], um 3 Uhr nächtens rückte zuerst das 15. Regiment zu Fuß über Bückeburg gen Hannover, um 8 Uhr waren bereits die letzten Bagage-Wagen hier vorbei. Beide Regimenter sind gestern unter Zugucken der Bevölkerung in die hannoversche Residenz eingezogen. Von Magdeburg und Hallstein ist um dieselbe Zeit der Einmarsch erfolgt. Doch dieses alles findest du ja in den Zeitungen. Nur noch nichts, dass wir das Land und noch mehrere zur „Annektierung“ unseres Gebietes behalten werden. —

Von dem Augenblick des Abmarsches unserer Truppen war die hannoversche Eisenbahn geschlossen auch mit Wagen besetzt. Heute Nachmittag ist das Eisenbahn-Festungstor wieder geöffnet und der Personalverkehr wieder eröffnet, in dem von hier aus die von den Hannoveranern an verschiedenen Stellen zerstörten Bahnen wieder hergestellt wurden. Widerstand haben unsere Truppen nicht gefunden. Was nun noch kommt, weiß Gott. Adolf lag erst zu Lahde zuletzt zu Hille. Wenn er einen festen Standort einnimmt, wollte ich Nachricht erhalten. Mutter ist seit acht Tagen mit Robert in Bad Hammen. Robert befindet sich viel besser. Wenn ich weiß, dass du in Köln bleibst, schreibe ich noch. Dein Vater Ziel


[1] Kleinere Fehler sind nicht ausgeschlossen. Einige gewisse Anpassungen an heutige Rechtschreib-, Grammatik-, Zeichensetzungs- und Formulierungsregeln sind erfolgt. WM