1994: Regenbrecht, Vertreibung

Krieg, Vertreibung – Neuanfang in Westernkotten

Josef Regenbrecht, Bad Westernkotten

[aus: Aus Kuotten düt und dat, 1994, Nr. 63 und 64]

Am 24.9.1993 wurde Josef Regenbrecht durch Landrätin Karin Sander das Bundesverdienst­kreuz überreicht. Aus diesem Anlass berichteten wir in den Ausgaben 58 und 59 allgemein über diese hohe Auszeichnung.

Schon Mitte 1993 hatte die Schriftleitung Josef Regenbrecht gebeten, einiges aus seinem Le­benslauf, vor allem aus den Nachkriegsjahren, der Zeit seiner Eingliederung in Westernkotten, zu Papier zu bringen. Aus dieser biographischen Zusammenstellung zitieren wir nachfolgend wichtige Passagen, um damit ein weiteres Mo­saiksteinchen zur Nachkriegsgeschichte unse­res Ortes hinzuzufügen. W. Marcus

Klakendorf

„Ich wurde am 7. Mai 1926 in Klakendorf bei Neukirch-Höhe im Kreis Elbing geboren. Bei der Einteilung des Landes Preußen in Provinzen ge­hörte Klakendorf zunächst zur Provinz West­preußen, von 1918 bis 1939 zu Ostpreußen, danach wieder zu Westpreußen. Die Einwohner des Ortes waren ausschließlich in der Landwirt­schaft beschäftigt.

Wirtschaftliche Verhältnisse

Die Eltern bewirtschafteten als Eigentümer einen Hof mit Landwirtschaft in der. Größe von 57,5 Hektar. Es handelte sich um mittelschwe­ren Lehmboden, auf dem außer Zuckerrüben alle Feldfrüchte angebaut wurden. Die Bewirt­schaftung war extensiv. Der Boden wurde in der sog. „Fünf-Felder-Wirtschaft“ bearbeitet. Die Waldfläche betrug 7,5 Hektar.

Kindheit und Jugend 1926-1939

Kindheit und Jugend verlebte ich in der Obhut der Eltern auf dem Hof In Klakendorf. Ein­schulung in die Volksschule zu Neukirch-Höhe im April 1932. Der Beginn des Krieges am 1. September 1939 war ein besonderes Erlebnis. Da die Arbeiter von den Höfen zur Wehrmacht eingezogen waren, war ich schon früh morgens beim Nachbarn Bruno Neumann – bei dem ich beschäftigt war. Es wurde Mist mit dem Pferde­wagen auf das Feld gefahren. Nachdem ich die erste Fuhre weggefahren hatte, kam Bruno Neu­mann zu mir an die Pferde und sagte: „Es ist Krieg!“

In den darauf folgenden Tagen war der Artilleriebeschuss auf die Westerplatte bei Danzig zu hö­ren. Am 10. September 1939 ist der erste Ein­wohner von Klakendorf, Leo Stobbe, im Polen­feldzug gefallen.

Krieg

Mit Beginn des Krieges wurde auch für unsere Eltern und die älteren Einwohner das Leben sorgenreicher, obwohl wir eigentlich von den kriegerischen Ereignissen bis zum Ende des Jahres 1944 verschont wurden. Eine tief greifende Veränderung in meinem Leben war der Tod meiner Mutter. Sie starb nach kurzer schwerer Krankheit am 30. Mai 1942 im blühenden Alter von noch nicht ganz 45 Jahren. Für mich und meine drei Geschwister begann nun ein ganz neues, schweres Leben.

Von 1941 bis 1942 besuchte ich die Handels­schule in Elbing. Anschließend Reichsarbeits­dienst, und ab Anfang 1944 war ich Soldat. Aus­bildung als Pionierfunker in Graudens und Stet­tin. Fronteinsatz ab November 1944. Rückzug durch Pommern und Mecklenburg. Den Zusam­menbruch erlebte ich mit der Gefangennahme durch die britische Armee am 8. Mai 1945. Der Rückmarsch durch Deutschland von Ost nach West war ein furchtbares Erlebnis. Alle Straßen und Wege waren mit Pferdefuhrwerken und Fußgängern sowie Militärfahrzeugen der vor der sowjetischen Armee in den Westen flüchtenden Bevölkerung verstopft. Trotz großer militärischer Anstrengungen war es nicht möglich, die vielen Menschen vor der gewaltigen Übermacht der sowjetischen Armee in den Westen zu retten. Viele Frauen, Greise und Kinder fielen dieser erbarmungslosen Armee in die Hände. Der größte Teil dieser Menschen ist in menschenun­würdiger Weise umgekommen. Viele wurden zur Zwangsarbeit in das große sowjetische Reich transportiert, und fast alle sind dort an den Fol­gen dieser unwürdigen Behandlung gestorben. Der Vater wurde nach Aussagen einer uns gut bekannten Familie, die in den Westen flüchten konnte, in den letzten Kriegstagen im Kreis Elbing, im Nachbarort Konradswalde, von ein­rückenden Truppen erschossen. (Wie viele an­dere Männer in seinem Alter.)

Nachkriegszeit

Nach kurzer Gefangenschaft in Eutin, Schles­wig-Holstein, Entlassung nach Suttrop in West­falen. Wir, das heißt die Familie meiner Mutter, Preuschoff, hatten das große Glück, dass hier in Suttrop eine Schwester der Mutter wohnte. Die­se Schwester unserer Mutter, unsere Tante Agnes, war schon 1921 nach dem ersten Welt­krieg mit ihrem Ehemann, Onkel Josef Liedtke, dorthin gekommen. Hier fand sich die Familie nach den Wirren des Krieges wieder. In Suttrop angekommen am 10. Juni 1945, wurde ich von der Familie des Onkels und der Tante sehr freundlich aufgenommen. Nun begann für mich

ein ganz neuer Lebensabschnitt. Im ganzen Lande herrschte noch Nachkriegschaos und Hungersnot. Um zu überleben, habe ich eine Arbeitsstelle als Landarbeiter auf einem Bauern­hof angenommen. Nun wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, was es heißt, als abhängiger Mensch zu leben. Die Arbeit kannte ich von zu Hause, so dass es mir nicht schwer fiel, damit fertig zu werden. Ein recht erniedrigender Ein­druck aus dieser Zeit wird für mich unvergessen bleiben: Mein Vesperbrot musste ich mit noch einem Arbeitskollegen gemeinsam mit den Kü­hen im Kuhstall einnehmen. Es schmeckte trotz­dem gut.

Wiederaufbau

Durch die Vermittlung des Hofbesitzers in Sutt­rop konnte ich im Mai 1946 eine Stelle als Milch­kontrollhelfer im Kreis Lippstadt antreten. Durch diese angenehme, umfangreiche Beschäftigung hatte ich Gelegenheit, die hiesige Bevölkerung im ländlichen Raum kennen zu lernen. Mein Betä­tigungsfeld erstreckte sich zunächst auf die Dör­fer des Haarstranges im Kreis Lippstadt, bis ich im Juli 1946 eine feste Anstellung im Kontroll­bezirk Erwitte mit Wohnsitz in Westernkotten bekam.

Festigung einer Lebensstellung

Am 1. Juli 1946 wurde mir vom damaligen Wohnungsamt Erwitte ein Zimmer im Hause des Landwirtes Franz Mintert zugewiesen. Hier hatte ich acht Jahre und acht Monate meinen Wohn­sitz. Die raue aber überaus herzliche Art des Franz Mintert und die freundliche Aufnahme durch Frau Mintert ließen mich schon nach ver­hältnismäßig kurzer Zeit hier eine gute Heim­stätte finden. Durch meinen Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft des Hauses Mintert in meiner Freizeit konnte ich auch hier meine Fähigkeiten als Mensch aus der Landwirtschaft unter Beweis stellen. So wurde im Laufe der Zeit ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis mit der Familie Min­tert geschaffen. Und noch heute wird diese gute Verbindung mit den Angehörigen der Familie Mintert gepflegt.

Ansonsten waren diese Jahre von großem persönlichem Einsatz sowohl im beruflichen als auch im gesellschaftlichen Leben geprägt. Immer wie­der wurde die Frage nach der Herkunft aufge­worfen. Bei der Antwort: „Aus den Ostprovinzen Deutschlands“ wurde dann eine recht genaue Musterung von Seiten der ansässigen Bevölke­rung vorgenommen. Mit dem Arbeitsplatz­wechsel im Herbst 1950 in die bäuerliche Ge­nossenschaft der Spar- und Darlehenskasse Westernkotten wurde ich nun noch weitmehr in das gesellschaftliche Leben hier im Ort ein­gebunden. Eine große Aufgabe war es doch, den vertriebenen Landsleuten aus den deut­schen Ostprovinzen die Eingliederung in den hiesigen Lebensraum zu erleichtern. Für mich war es verhältnismäßig einfach, im dörflichen

Leben hier recht bald Fuß zu fassen, da ich ledig und ohne Anhang war. Jedoch die Familien mit Kindern hatten es sehr schwer, sich in der Ge­sellschaft und im Arbeitsleben einzugliedern. Ebenso war es sehr schwierig, sich in den politi­schen Gremien zurechtzufinden. So war es für mich selbstverständlich, mich für das Wohl die­ser Menschen auch besonders im karitativen Bereich einzusetzen. Bei diesem Einsatz fand ich große Unterstützung beim damaligen Orts­pfarrer, Herrn Fritz Becker. Im gesellschaftli­chen Bereich fand ich recht schnell gute Freun­de im hiesigen Männergesangverein. Zwei Män­ner möchte ich in diesem Zusammenhang be­sonders erwähnen: Theodor Adämmer und Willi Becker. Letzterer wohnt seit vielen Jahren in den USA.

Wesentlich schwieriger war die Verbindung zu den politischen Gremien. Galt es doch, beson­ders die Interessen der vertriebenen und ge­flüchteten Menschen zu vertreten. Der politische Zusammenschluss dieser Menschen war in den ersten Jahren nach dem Kriege durch die alli­ierten Besatzungsmächte verboten. So bildeten sich hier Interessensgemeinschaften, die bei der Eingliederung große Hilfe leisteten. Erst 1952 konnten sich die Ostvertriebenen politisch orga­nisieren. Sie gründeten als Parteien den „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“. Da­durch konnte nun auch in der hiesigen Kommu­nalpolitik mitgearbeitet werden. Bei der Kom­munalwahl 1952 konnte diese Gruppe drei Ratsvertreter in den Gemeinderat von Western­kotten entsenden. Nun galt es vor allen Dingen das Wohnungsproblem zu lösen. Wohnten doch noch fast alle Vertriebenen und Flüchtlinge in Notwohnungen auf engstem Raum. Durch ge­schicktes Verhandeln mit den zuständigen Be­hörden und den hiesigen Kommunalpolitikern konnten bei der Verteilung der Bauplätze im Baugelände „Auf der Brede“ und besonders im „Fredegras“ eine ganze Reihe Familien aus dem Kreis der Ostvertriebenen berücksichtigt wer­den. Es ist besonders dem Verständnis und dem persönlichen Einsatz des damaligen Bürgermei­sters Aloys Merschmann zu verdanken, dass durch die Errichtung der Siedlungshäuser nun für diese Menschen auch menschenwürdige Wohnungen entstanden. Dieses alles musste ge­gen einen nicht unerheblichen Widerstand eines wenn auch verhältnismäßig geringen Teiles der hiesigen Bevölkerung durchgesetzt werden.

Im Zuge der Errichtung der bäuerlichen Neben­erwerbssiedlungen im „Fredegras“ wurde mir durch den Bauträger, die „Deutsche Bauern­siedlung“, Düsseldorf, im Herbst 1954 eine Siedlerstelle zugeteilt. Die Freude war fast unbe­schreiblich. Wenn der damalige Schuldenberg auch hoch und das Einkommen sehr gering war, so konnten nun mit mir doch einige Familien auf eigenem Grund und Boden wirtschaften. Und vor allen Dingen: „Man hatte ein eigenes Dach über dem Kopf!“ So war ich zunächst sehr froh, mit meinen Geschwistern wieder ein Zuhause zu haben. Nun konnte ich eine eigene Familie grün­den. Im Sommer 1955 trat ich in den Stand der Ehe mit meiner Frau Hedwig, geborene Brauner. Am 15. Juni, dem Tag der Hochzeit, wurde in das neue Haus eingezogen. Wir waren über­glücklich, nun dieses schöne Heim unser eigen zu nennen. Zwei Kinder wurden geboren: Unser Sohn Josef am 5. Mai 1957 und die Tochter Katharina am 7. August 1960.

Die Arbeit im Lager der bäuerlichen Genossen­schaft wurde immer umfangreicher und verlang­te große körperliche Anstrengungen, so dass sich bei mir immer mehr gesundheitliche Schäden bemerkbar machten. Eine Weiterbildung mit ei­nem eventuellen Einstieg in den geschäftlichen Bereich der Spar- und Darlehnskasse wurde mir von der Geschäftsleitung und den damaligen Verwaltungsorganen nicht ermöglicht. So wech­selte ich den Arbeitsplatz. Durch die Vermittlung meines Bruders Alfons wurde mir die Verwaltung des Ersatzteillagers im Trockenmilchwerk Lipp­stadt angeboten. Am 1. April 1958 trat ich diese Stelle an. Auch hier musste ich wieder neue Kenntnisse, besonders in der Technik, erwer­ben. Durch die Vermittlung der dortigen Ge­schäftsführung konnte ich im Laufe der sech­ziger Jahre meine betriebswirtschaftlichen Er­fahrungen in verschiedenen Seminaren und mehreren Semestern Betriebswirtschaft in Abend- und Wochenkursen erweitern. Am 1. Ja­nuar 1970 wurde mir die Leitung der Einkaufs­abteilung, zuständig für die gesamte Beschaf­fung im Unternehmen, übertragen. Hier war ich als Abteilungsleiter bis zu meiner Pensionierung am 1. Mai 1987 tätig.

Aufgaben im gesellschaftlichen und politi­schen Bereich

Wie schon erwähnt war der hiesige Männerge­sangverein für mich der erste Einstieg in das gesellige Leben in Westernkotten. Hier habe ich eine ganze Reihe guter Freunde gefunden. Auch heute noch habe ich viel Freude am Gesang. Nach einigen Jahren der Mitgliedschaft wurde ich als Kassierer gewählt und später mit der Geschäftsführung für einige Jahre beauftragt. Auch an den Aktivitäten weiterer örtlicher Ver­eine bin ich durch meine Mitgliedschaft seit vie­len Jahren beteiligt. Seit ich hier wohne, bin ich Mitglied im hiesigen Schützenverein. Auch in der Kommunalpolitik war ich viele Jahre aktiv tätig. Über den „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ wurde ich 1960 in die Gemeinde­vertretung von Westernkotten gewählt. Nach der Auflösung dieser Organisation wurde ich in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ab 1964 bis zur kommunalen Neugliederung immer direkt in das Gemeindeparlament gewählt. Ebenso in die Amtsvertretung des Amtes Er­witte. Nach dem Zusammenschluss der Amts­gemeinden zur Stadt Erwitte war ich bis 1982 Mitglied des Rates der Stadt Erwitte und hier auch in verschiedenen Ausschüssen tätig. Aus beruflichen Gründen bin ich 1982 ausgeschieden.

Resümee

In all den Jahren habe ich feststellen müssen, dass es sehr gute und weniger gute Menschen gibt. Jedoch machte ich auch die Erfahrung, dass das Gute wesentlich überwiegt. Aber es kommt im Wesentlichen darauf an, sich mit allem, be­sonders mildem weniger Guten, ganz kritisch auseinanderzusetzen. Von großer Wichtigkeit ist dabei, dass bei aller kritischen Betrachtung von einzelnen Mitmenschen keine offene Feind­schaft zutage tritt. Für mich ist es immer wieder karitative Aufgabe und gesellschaftliche Pflicht, aufeinander zuzugehen und in guten und offenen Gesprächen anstehende Unstimmigkeiten jedweder Natur auszuräumen. Und dieses ist mir nach meinem Wissen immer gut gelungen. Allen aber, die mir bei der Eingliederung in gesell­schaftliche, berufliche, politische und in viele andere Bereiche geholfen haben, möchte ich ein herzliches Dankeschön sagen.“