Gedanken zu meiner Wanderung nach 40 Jahren beruflicher Tätigkeit vom 01.02.2024 – 18.02.2024

von Dr. Hans-Jürgen Marcus, Hildesheim

Mein Anliegen
Die Frage, wie ich den Übergang in den „Ruhestand“ begehen wollte, hatte mich schon länger beschäftigt. Vor fast zwei Jahren wollten wir uns bei einem Seminar für kirchliche Mitarbeiterinnen Gedanken machen über unseren Ruhestand. Aus verschiedenen Gründen kam es nicht zustande. Aber, bei mir ist es hängen geblieben. Schnell war mir klar: Gehen möchte ich! Gehen hat mir immer geholfen, in die Distanz zu kommen. Nach meinem Ausscheiden als Diözesan-Caritasdirektor war ich im Januar bei Eis und Schnee eine Woche lang von Hildesheim in mein Heimatdorf nach Bad Westernkotten gegangen. Beim Gehen hat man Zeit, bei sich zu sein und sich selbst zuzuhören. Viele Mitarbeiterinnen gehen nicht in den Ruhestand. Sie sitzen, stehen oder liegen eher als dass sie gehen. Ich wollte gehen – als Vorsitzender des Alpenvereins hatte ich schließlich einen Ruf zu verlieren. Aber, wohin gehen? Einen der Pilgerwege? Nach Santiago, Rom oder Assisi? Ich entschied mich dafür, von meinem letzten Arbeitsplatz in Hildesheim zu meinem ersten Arbeitsplatz in Olpe im Sauerland zu gehen. Also ein Weg durch die eigene berufliche Biographie.
Am 01.02.2024, dem ersten Tag der Rente, ging es gleich los. 17 Tage hatte ich mir Zeit genommen. Auf der ersten Etappe begleiteten mich Jana und Martina. Natürlich war es noch Winter. Aber an diesem Tag schien die Sonne. Das lag wohl an der Begleitung!
Unterwegs wollte ich bei Freund*innen vorbeischauen und bei ihnen übernachten. Bei Doris und Andreas in Paderborn, bei Annette und Wolfgang in Bad Westernkotten, bei Hannah und Flo in Münster, bei Claudia und Heinz in Heiderhof. Außerdem wollte ich versuchen, mich mit einigen Bekannten spontan zu verabreden. Ich habe mich gefreut, wie oft das gelungen ist.
Zwei Tage lang war ich im Kloster Königsmünster zu einer stillen Zeit mit Texten aus den Psalmen und aus dem Evangelium. Immer wieder der Wechsel zwischen Zeiten für mich und dem Gespräch mit Anderen. Immer wieder an Orte gehen, die für mich eine Bedeutung haben. Natürlich wollte ich mir nicht zu viel zumuten: 20-25 km an den Wandertagen. Ab und an auch mal einen wanderfreien Tag.
Und immer, wenn die geplante Strecke etwas zu lang war, freute ich mich über das Deutschlandticket und fuhr ein Stück Bus oder Bahn.

So ging es von Hildesheim nach Elze (Bus nach Hameln), von Hameln nach Bad Pyrmont (Bus nach Schwalenberg), von Schwalenberg nach Pömbsen (Bus und Zug nach Paderborn), von Paderborn nach Rebbeke (Bus nach Bad Westernkotten), von Lippstadt nach Stromberg (Bus nach Münster), von Freienohl nach Meschede (Zug von Münster nach Freienohl), von Meschede nach Eslohe, von Eslohe nach Finnentrop, von Finnentrop nach Attendorn, von Attendorn nach Heiderhof. Und ganz zum Schluss gab es noch eine Wanderung mit unserer Wandergruppe, den „Wonderers“ an der Sieg.
250 Kilometer waren es mit meinem 10 Kg schweren Rucksack, 320 waren es, wenn man die Kilometer ohne Rucksack (insbesondere an den freien Tagen) dazu rechnet. Keine Macke, keine Blase, kein Sturz. Aber natürlich matschige und nasse Etappen, manchmal auch stürmisch, ab und an etwas Sonne, es ging mal leichter und mal schwerer, mal bergauf und mal bergab. Alles, wie im wirklichen Leben. Am Schluss bleibt die Dankbarkeit. 3 Wanderer hatte ich an den elf Tagen getroffen. Also, kein Stau auf den Wanderwegen.

Zeit zum Abdanken
Von Fulbert Steffensky habe ich gehört und gelesen, wie wichtig das Abdanken im Blick auf den Prozess des Älterwerdens ist. Abdanken – ein wunderbares altes Wort, auch für den Ausstieg aus dem Beruf. So war es passend, meine Wanderung am ersten Tag früh mit Laudes und Eucharistie in der Eremo St. Romuald zu beginnen.

Für den Tag war das Evangelium von der Aussendung der Jünger nach Markus vorgesehen. „Und Jesus trug ihnen auf, dass sie nichts mitnehmen auf den Weg, nur einen Stock, kein Brot, keinen Ranzen, kein Geld im Gürtel, sondern Sandalen untergebunden und: Zieht nicht zwei Untergewänder an.“ Mk 6,8f. Und am Ende gab es den Reisesegen von Benedikt und es ging dann mit Rucksack und Wanderstock, mit Jana und Martina auf den Weg. Ich habe versucht, Kirchen, Kapellen und Wegkreuze als Ruhe- und Impulspunkte zu nutzen.
Das Gehen erleichtert es, in eine Haltung des Abdankens zu kommen. Was habe ich alles erleben, gestalten und bewegen können? Welche Herausforderungen haben sich in den Weg gestellt? Wem bin ich begegnet? So vielen engagierten Menschen, die jeden Tag ihre Arbeit in der Nachfolge Jesu tun. Sie reden nicht viel darüber, aber sie geben ein Zeugnis der Tat. Ich bin dankbar für das, was ich ausprobieren, was ich gestalten und begleiten durfte. Es waren viele Bühnen, auf denen ich gespielt habe. Dankbar bin ich für die Begleitung Gottes auch und gerade in den dunkleren Zeiten und immer dann, wenn die eigene Kraft kaum ausgereicht hat.

Der Wanderstock


Schon ein Vierteljahr vor Eintritt in den Ruhestand hatte ich mir bei einem süddeutschen Forstamt einen Wanderstock bestellt. Die Gravur von zehn Zeichen gab es kostenlos dazu und auch noch ein Symbol. Ich entschied mich für die Friedenstaube, für eine Abkürzung meines Namens „Ha-Jü“ und für den Imperativ “GEH!“. So stand der Wanderstock neben der großen Standuhr im Wohnzimmer und ermutigte mich zu gehen. Insbesondere in den Zeiten über Weihnachten und über den Jahreswechsel als es mir nicht so gut ging und ich mich mit einer rheumatischen Erkrankung herum-schlug (Polymyalgia rheumatica). Der Stock neben der Uhr erinnerte an den Plänen festzuhalten und sie weiter zu konkretisieren. Und nützlich war der Stock: Auf den schmierigen und matschigen Wanderwegen in den durchwanderten Regionen bot er Halt und Sicherheit. Natürlich war er auch ein markantes Erkennungsmerkmal: „Ah, Sie wandern! Und das in dieser Zeit? Mitten im Winter?“ Und schon war man mitten drin im Gespräch.
Schöne Gespräche gab es mit den Menschen unterwegs. Gute Tipps für die Rente: Tagesstruktur ist wichtig. Und muten Sie sich etwas zu. In der Ecke sitzen ist gar nicht gut. Gern erinnere ich mich an den Kirchenführer im Paderborner Dom, der mir unbedingt einen Stempel für den Camino verpassen wollte. Ich sah schließlich so aus. Aber, als ich ihm mein Projekt erklärt hatte, war er sehr einverstanden und nahezu begeistert. Oder, ganz am Ende das niederländische Paar, bei denen ich gerade stand als ein großer Schwarm Kraniche („de kraanvogels“) über uns hinwegzog.
Rituale
Rituale helfen Menschen in komplexen Lebenssituationen. Wenn die Freude groß ist über die Geburt eines Kindes, finden sich viele Rituale von der Wäscheleine über die Straße bis zum Klapperstorch auf dem Dach.

Zur Einschulung gibt es mindestens eine Schultüte. Zum Geburtstag gibt es eine entsprechende Anzahl Kerzen auf dem Kuchen. Zur Hochzeit wird mit altem Geschirr gepoltert. Oder, denken wir an die kirchlichen Sakramente und Sakramentalien, an Taufe, Hochzeit, Krankensalbung oder Beerdigung mit ihrer vielfältigen Symbolik. Wenn die Not ganz groß ist, beten fromme Menschen den Rosenkranz oder das Vater unser. Rituale tragen Menschen, wenn sie ihr Leben kaum mehr allein tragen können. Der Übergang vom Erwerbsleben in die Rente ist auch ein ziemlich komplexer Vorgang und wie die Statistiken zeigen auch ein gefährlicher! Aber, es gibt wenig Rituale. Wenn es gut geht, gibt es noch eine Verabschiedung im Betrieb. Aber, wirkliche Rituale? Ich denke, dass es umso wichtiger ist, sein eigenes Ritual zu finden.
Das Wandern an sich hat schon etwas Rituelles, etwas Gleichförmiges und Wiederkehrendes. Beim Gehen seinen Gedanken nachhängen. Oder einen Gedanken im Gehen immer zu wiederholen und weiterzuentwickeln. Die alten Mönche kannten dieses Wiederkäuen von wichtigen Worten. Sie nannten das „Ruminieren“ (von „Ruminare“ = „Wiederkäuen“) und das geht ganz besonders gut im Gehen. Mir ging das auf der Tour mit einem Buchtitel so. Ich hatte Birgit Vanderbeken`s Buch „Das lässt sich ändern“ gelesen. Und dieser Titel verfolgte mich eine lange Wanderung in seinen vielen Facetten und Vertiefungen.
Ich möchte Menschen ermutigen, ihr eigenes Ritual für den Übergang aus dem Erwerbsleben in eine neue Zeit zu finden. Ich habe übrigens eine „Ruhegangstüte“ von meiner Familie bekommen. Ich hatte mich oft beschwert, dass ich einer der wenigen war, der vor 60 Jahren keine Schultüte zur Einschulung bekommen hatte. Späte Genugtuung!

Neue Perspektiven gewinnen
Beim Ruhegang gehen die Gedanken nicht nur zurück. Man fragt natürlich auch, was vor einem liegt. Auf der Tour war das auch immer Inhalt der Gespräche. An-schaulich wurde für mich diese Per-spektive nach vorn beim Besteigen des Überwasserkirch-turms und beim Überblick über die Stadt Münster. Den haben wir der Tatsache zu ver-danken, dass Hannah einen dienstlichen Schlüssel hat. Von der Überwasser-kirche der Blick auf die benachbarte Lambertikirche. Hier ragte noch die beleuchtete Ja-kobsleiter aus der Kirche, die Verbindung von Himmel und Erde, in den letzten Monaten war sie schon fast zum Wahrzeichen der Stadt geworden. Jetzt wandert sie zum Bedauern der Münsteraner nach Paris weiter. Für mich war es eine Perspektive auf Münster, die ich nicht kannte. Wie überhaupt die neuen Perspektiven mich auf meinem Weg gut begleitet haben!